Operation Romanow
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GEGENWART
128. KAPITEL
Briar Cottage, Irland
Es hatte aufgehört zu regnen. Als Jakow ein paar Holzscheite in das Feuer warf, das nur noch schwach glimmte, sprühten Funken.
»Jetzt wissen Sie, was passiert ist. Es war gewiss ein brutales Ende. Die Familie kam grausam zu Tode, aber nicht so, wie die Geschichte es darstellt. Es gab niemals einen hundertprozentig korrekten Bericht über die Hinrichtung der Romanows. Vieles blieb im Dunkeln. Schließlich wurden die sterblichen Überreste gefunden. Zwei Leichen fehlten allerdings. Wir hatten die Aussagen der Schützen, doch die lieferten im Laufe der Jahre immer wieder andere Darstellungen. Und es gab unzählige Mutmaßungen über die Ereignisse in jener Nacht. Einige waren verrückt, andere glaubwürdig. Oft war es schwierig zu durchschauen, wo die Wahrheit begann und die Lüge endete.«
Jakow sah mich an. »Eines weiß ich mit Sicherheit. Anastasia und der Junge starben nicht sofort. Das steht sogar im Bericht der Schützen. Und Anastasia wurde nicht mit dem Rest der Familie begraben.« Jakow verstummte kurz. »Die Experten aus der Genforschung können noch so viele Spekulationen anstellen, aber sie können noch immer nicht mit absoluter Gewissheit sagen, ob irgendeiner der Knochen, die später gefunden wurden, zu ihrem Skelett gehörte. Ich bezweifle, dass es ihnen jemals gelingen wird.«
Ich war wie benommen. »Wie soll ich wissen, dass Ihre Version der Geschichte stimmt?«
Jakow stand auf und legte eine Hand auf seine Hüfte. In diesem Augenblick sah er furchtbar gebrechlich aus. »Die Wahrheit finden Sie da draußen. Sie müssen sich nur die Mühe machen, genau hinzusehen. Alle meine Behauptungen können bewiesen werden.« Jakow schien felsenfest von seiner Theorie überzeugt zu sein.
»Wie?«, fragte ich.
»Juri Andrew, Joe Boyle, Hanna Wolkowa, Lydia Ryan, Leonid Jakow, Philip Sorg – sie alle haben wirklich gelebt. Und es gibt so viele Hinweise, dass man die Wahrheit praktisch nicht übersehen kann! Man muss nur genau hinsehen, und schon findet man sie.«
»Wo soll ich anfangen?«
Jakow nahm ein Notizheft von einem der Regale und riss eine beschriebene Seite heraus. »Beginnen Sie mit der Befragung dieser Leute. Sie können meine Darstellung der Ereignisse bestätigen. Sie wissen sicherlich, dass das Ipatjew-Haus 1977 in einer einzigen Nacht abgerissen wurde. Juri Andropow, der Kopf des KGB und späterer russischer Präsident, gab den Befehl dazu. Das war recht rätselhaft, da das Haus eigentlich keine besondere Aufmerksamkeit auf sich zog. Zwei Jahre nach der Zerstörung wurden die ersten Leichen der Romanows ausgegraben. Was für ein Zufall, habe ich immer gedacht, wenn man bedenkt, dass sie in den sechzig Jahren davor nicht aufgefunden werden konnten!«
Er reichte mir das Blatt mit einer Liste von Namen, internationalen Telefonnummern und Adressen. Ich erkannte russische, amerikanische und englische Ländervorwahlen.
Jakow lächelte gequält. »Es geht nur darum, Fakten zusammenzutragen, Dr. Pawlow. Unwiderlegbare Fakten, die eine andere Geschichte erzählen als die, die wir glauben sollen. Sie müssten sich auf die Reise machen. Aber ich nehme an, dass es Ihnen diese Sache wert ist, ein paar Stunden im Flugzeug zu verbringen.«
Ich stellte ihm eine Frage, die mir die ganze Zeit schon auf den Nägeln gebrannt hatte. »Was ist mit Anna Anderson? Die Frau, die in Berlin aus einem Kanal gefischt wurde und von der viele glaubten, sie sei Anastasia? Sie haben gesagt, Sie würden es mir erklären.«
»Auch die Wahrheit über sie finden Sie da draußen – nicht die erfundene Geschichte, die uns glaubhaft gemacht werden soll.«
»Die Leiche, die ich gefunden habe … Es ist Lydia Ryan, nicht wahr?«
»Ja. Sie ist in Russland gestorben.«
»Wie? Was ist ihr zugestoßen?«
Ich hatte so viele Fragen, doch ehe ich sie stellen konnte, zeigte er auf das Blatt. »Sprechen Sie mit diesen Leuten. Viele sind Experten auf ihrem Gebiet. Die großen Zusammenhänge kennen sie nicht, obwohl einige Vermutungen haben. Sie alle kennen jedoch einzelne Teile des Puzzles – die Geheimnisse und Lügen, über die ich gesprochen habe. Spüren Sie sie auf. Hören Sie sich an, was sie zu sagen haben.«
»Und dann?«
»Dann kommen Sie zu mir zurück. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.«
Auf der achtzig Meilen langen Fahrt vom Pearson International Airport in Toronto zu der hübschen viktorianischen
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