Operation Romanow
Stadt Woodstock dachte ich an Joe Boyle.
Seine sterblichen Überreste wurden 1983 von dem Friedhof in Hampton Hill, London, wo er im April 1923 beerdigt worden war, in seine Heimatstadt in Kanada überführt. Ein paar Nachkommen von Boyle wohnten noch in Woodstock, aber Frank Evans gehörte nicht dazu. Aber den ehemaligen Geschichtslehrer, einen schlanken Mann mit intelligentem Gesicht und einer hohen, zerfurchten Stirn, faszinierten Boyles Heldentaten seit langer Zeit.
Die Sonne schien, als er mich zu dem presbyterianischen Friedhof an der Vansittart Avenue begleitete. Ein neuer Granitstein auf dem Familiengrab markierte Boyles letzte Ruhestätte. Dieser Stein ersetzte die ehemalige Grabplatte mit der hübschen Steinvase, die eine Schenkung von Königin Maria von Rumänien, einer Cousine der Romanows und einer Freundin von Boyle, gewesen war, und jetzt in einem Museum in Woodstock besichtigt werden konnte.
»Sie nannten ihn ›Klondike Joe Boyle‹«, erklärte mir Evans. »Er war ein verwegener Mann wie aus einem Abenteuerroman, eine herausragende, bemerkenswerte Persönlichkeit. Er erlebte genug Abenteuer, um mehrere Bücher damit zu füllen.«
Evans kniete sich auf die Erde und fegte ein paar Steine von dem Grabstein. »Doch die Geschichte hat ihn größtenteils vergessen. Alle Erzählungen über ihn – dass er in Russland ein Netzwerk aus Hunderten von Geheimagenten aufgebaut und mitgeholfen hat, russische Adelige zu retten – entsprechen den Tatsachen. Dieser geheime Spionagering wurde von den Regierungen der USA, Frankreichs und Großbritanniens inoffiziell finanziert.«
»Was ist an dem Gerücht dran, dass er an einem Rettungsversuch der Romanows in Jekaterinburg beteiligt war?«
Evans lächelte. »Ich glaube, es stimmt. Boyle kannte ein paar Leute aus der Bruderschaft von Tobolsk. Und er führte detaillierte Listen seiner Ausgaben. Seine Privatunterlagen beweisen, dass er Anfang Juli 1918 große Summen für Reisen, Fotografien, Hotels und Kleidung für mehr als eine Person ausgegeben hat. Sie belegen auch, dass er ungewöhnlich viele Flug- und Bahnreisen unternahm. Seine Tochter Flora betonte immer, dass ihr Vater bei einem letzten verzweifelten Versuch, die Romanows zu retten, eine tragende Rolle spielte. Sie wusste zwar nicht, ob dieser Rettungsversuch erfolgreich war, doch ihr Vater behauptete stets, einer der Letzten gewesen zu sein, der den Leichnam des ermordeten Zaren gesehen hat.«
»Glauben Sie es?«
»Ja. Das ist genau eines dieser waghalsigen Abenteuer, an denen Boyle großen Gefallen fand. Er war tatsächlich der einzige Mann, der für eine solche Operation infrage kam. Außerdem kannte er das russische Eisenbahnnetz sehr gut und hatte Spione an den Hauptstrecken.«
»Erzählen Sie mir mehr.«
»Er hatte seine Fähigkeiten bereits unter Beweis gestellt, als er mithalf, die Juwelen der rumänischen Königsfamilie aus dem Kreml zurückzuholen, wobei er mit nicht mehr als seinem irischen Charme bewaffnet war. Anschließend floh er und legte dreitausend Kilometer mit dem Zug zurück. Bei einer anderen Gelegenheit befreite er entführte Mitglieder der rumänischen Königsfamilie vor den Augen der Bolschewisten. Später war er an der Rettung der Zarenmutter beteiligt.«
»Glauben Sie wirklich, dass er in der Nacht des Massakers in Jekaterinburg war?«
»Ich zweifle nicht daran. Nicht im Geringsten! Und auch nicht daran, dass er mit dem Zug nach Bukarest geflohen ist. Seine Beteiligung an dieser Sache wurde allerdings immer streng geheim gehalten.«
»Aber warum? Und woher wissen Sie das alles so genau?«
»Aus verschiedenen Gründen. Erstens schrumpfte Boyles Vermögen. Er hatte in verschiedene Geschäfte in Russland investiert, die er nicht verlieren wollte. Zudem fürchtete er Vergeltungsmaßnahmen der Roten, besonders von Trotzki, den er kennengelernt hatte und dem er misstraute. Darum wurde seine Beteiligung geheim gehalten.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte ich.
»Die offizielle Version ist, dass Boyle im Sommer 1918 einen Schlaganfall erlitt und sich in einem Krankenhaus in Bukarest erholte. Das entspricht nur zum Teil den Tatsachen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er erlitt in der Tat einen Schlaganfall, jedoch Ende Juli, nach seinem ungeheuer langen Flug nach Russland und dem Drama des Rettungsversuches. Boyle war zwar robust und von kräftiger Statur, aber nicht mehr der Jüngste. Sein Körper verkraftete die Anspannung nicht, und nachdem er am 23. Juli 1918 mit dem Zug in
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