Operation Romanow
die Wagen gekoppelt. Der Zug ist abfahrbereit, Kommissar.« Dann salutierte er und verschwand.
»Lydia hat recht, Juri«, sagte Boyle. »Es wird nicht für lange sein. Es tut mir leid, aber wir müssen uns beeilen.«
Jakow sah hinaus in den dichten Nebel, der sich wie ein Schleier auf die Gleise senkte. In der Ferne schlugen die Glocken der Kathedrale drei Uhr in der Nacht.
Jakow drehte sich wieder um und legte eine Hand auf Andrews Schulter. »Es ist alles gesagt. Fahrt los, ehe es zu spät ist. Mit etwas Glück werden wir uns wiedersehen.«
Mittlerweile war der gesamte Bahnsteig in Rauchwolken und Nebel gehüllt. Andrew, Lydia und Jakow warteten, während Boyle die Messinstrumente im Führerstand überprüfte. »Der Druck im Kessel ist in Ordnung. Wir können abfahren. Haben Sie sich verabschiedet?«
Andrew nickte mit grimmiger Miene. »So gut es unter diesen Umständen ging.«
Boyle sprang aus dem Fahrerhaus der Lokomotive auf den Bahnsteig und reichte Jakow die Hand. »Ich hoffe, wir sehen uns wieder und können, wenn wir Glück haben, in London eine Flasche köpfen.«
Andrew übersetzte, worauf Jakow erwiderte: »Ich nehme Sie beim Wort.«
Boyle küsste Lydia die Hand und zwinkerte ihr zu. »Und Sie, junge Frau, halten Sie sich zurück! Zügeln Sie Ihr irisches Temperament, und versuchen Sie, nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Machen Sie, was Jakow sagt, dann wird Ihnen nichts zustoßen.«
»Auf Wiedersehen, Boyle. Ich hoffe, Sie schaffen es.«
Boyle lächelte gequält. »Es ist ein interessanter Aspekt des Lebens, dass wir, sobald wir furchtbare Erfahrungen machen mussten, alles, was danach kommt, als Geschenk betrachten. Auf Wiedersehen.« Er drehte sich zu Andrew um. »Wir fahren jetzt ab, bevor man in dem Nebel gar nichts mehr sieht.«
Mit diesen Worten stieg Boyle wieder die Stufen zur Lokomotive hinauf. Als der Zug sich langsam und ruckartig in Bewegung setzte, gab er Andrew ein Zeichen. »Kommen Sie, Juri. Wir haben keine Zeit.«
Andrew zog ein silbernes Medaillon aus der Tasche und drückte es Lydia in die Hand. »Das wollte ich dir eigentlich in Moskau geben. Doch dann überstürzten sich die Ereignisse, und es war nie der rechte Augenblick.« Er griff nach ihrer Hand und küsste sie auf die Wange. »Ein kleines Andenken. Pass auf sie auf, Leonid!«
Jakow nickte. Sie schüttelten sich die Hand.
Der Zug nahm schon Geschwindigkeit auf. Andrew sprang auf eine Stufe und ließ die beiden nicht aus den Augen, als die Lokomotive davonfuhr.
Als Lydia dem Zug nachsah, legte sie eine Hand auf ihre Wange. »Warum?«, fragte sie Jakow. »Warum lassen Sie sie fahren?«
Jakow zündete sich eine Zigarette an. »Das Leben ist nicht nur das, was sich für jeden sichtbar abspielt, sondern es gibt noch etwas dahinter, nicht wahr? Vielleicht wissen wir manchmal gar nicht, wie stark die Gefühle sind, bis sie auf die Probe gestellt werden. Zwischen Ihnen und Juri habe ich etwas gespürt, wenn ich mich nicht irre.«
Lydia antwortete ihm nicht. Stattdessen öffnete sie ihre Hand und betrachtete das silberne Medaillon. Auf der Vorderseite war der kaiserliche Doppeladler in Gold zu sehen. Sie drehte es um und las die Gravur.
»Es bedeutet Ihnen viel, nicht wahr?«, fragte Jakow.
Lydia nickte und hob den Blick. Jakow sah Tränen in ihren Augenwinkeln. »Ja, es bedeutet mir viel«, erwiderte sie mit rauer Stimme. »Und Sie und Nina?«
Die Frage überraschte Jakow.
»Sehen Sie mich nicht so erstaunt an«, sagte Lydia. »Frauen spüren so etwas.«
Jakow zog an seiner Zigarette. »Es gibt viele Arten von Liebe, glaube ich. Es gibt die leidenschaftliche Liebe und die pflichtbewusste, doch oft begreifen wir nicht, dass es trotzdem zwei Seiten derselben Medaille sind.« Er schlug den Kragen hoch. »Und dann gibt es noch eine andere Art von Liebe, die wir nur zeigen können, indem wir jemandem die Freiheit schenken.«
Lydia fror in der kühlen Nachtluft. »Haben Sie es darum getan?«
»Wer weiß? Wer weiß das alles schon genau? Wir wissen nur das, was das Herz uns sagt.« Jakow zog seinen Mantel aus und legte ihn Lydia um die Schultern. »Darf ich?«
Das Rattern des Zuges verhallte in der Ferne. Dann hörten sie ein trauriges Pfeifen, und im nächsten Moment wurde die Lokomotive vom Nebel vollständig verschluckt.
Sie standen da und starrten auf den kalten, grauen Nebelschleier, bis Jakow Lydia schließlich den Arm anbot. Sie hakte sich bei ihm ein und ging mit ihm den Bahnsteig hinunter.
Dieses E-Book
Weitere Kostenlose Bücher