Operation Romanow
»Oder auch nicht. Mein Gefühl sagt mir, dass mehr dahintersteckt. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Palast nur einen Steinwurf von hier entfernt liegt. Es gibt königstreue Spione, die nichts lieber täten, als den Zaren aus dem Hausarrest zu befreien. Wir dürfen kein Risiko eingehen.«
Es ist wirklich unglaublich, wie schnell Kasan seine Fahne nach dem Wind hängt, dachte der Polizeihauptmann.
Kasan entdeckte etwas in der Asche. Er beugte sich hinunter und hob eine kleine braune Flasche aus geriffeltem Glas auf, an der Asche klebte. Der Gummipfropfen war geschmolzen. Kasan wischte die Flasche ab und schnüffelte daran.
»Haben Sie etwas gefunden?«, fragte der Polizist.
Als Kasan den bitteren Geruch wahrnahm, rümpfte er die Nase. »Laudanum.«
»Wie bitte?«
»Ein Beruhigungsmittel, das zur Behandlung verschiedenster Krankheiten eingesetzt wird. Schmerzen, Angst. Die Liste ist lang.«
Kasan steckte die Flasche in seine Manteltasche. »Befragen Sie Droschkenkutscher, Zimmerwirte und Hausbesitzer. Finden Sie heraus, ob kürzlich Fremde in diese Gegend gekommen sind. Überwachen Sie die Bahnhöfe. Stellen Sie auf allen Straßen, die zur Stadt führen, Kontrollposten auf. Geben Sie die Beschreibung des Mieters weiter.«
»Aber, Inspektor, meine Männer haben alle Hände voll zu tun …«, erwiderte der Polizist aufgebracht.
Kasan starrte den Polizeihauptmann mit seinem gesunden Auge ungerührt an, während das trübe Auge ins Nichts glotzte. »Machen Sie, was ich sage! Wenn unser Phantom irgendwo da draußen herumläuft, werde ich es finden.«
»Könnten Sie ein paar Minuten anhalten?«, fragte Sorg den Droschkenkutscher. »Die Natur verlangt ihr Recht.«
Sie hatten den Stadtrand von Zarskoje Selo erreicht und standen auf einer kleinen Anhöhe, die dicht mit Kiefern bewachsen war. Ein zugefrorener Bach schlängelte sich durch den Wald.
Der Droschkenkutscher zügelte die beiden kräftigen Pferde, deren Atem als weiße Nebelwölkchen in die eisige Luft stieg. »Gewiss, Herr. Lassen Sie sich Zeit.«
Sorg zog die Decke von den Beinen, stieg von der Kutsche und ging mit seiner Gladstone-Tasche in der Hand in den Wald.
Zwischen den Nadelbäumen lag kein Schnee. Der weiche, von Kiefernnadeln übersäte Boden dämpfte Sorgs Schritte, als er sich durchs Unterholz schlug. Auf der anderen Seite der Anhöhe bot sich ihm ein guter Blick auf Zarskoje Selo.
Sorg nahm das Fernrohr aus der Tasche und stellte es auf den Ast einer kahlen Eiche, deren Borke die Farbe von angelaufenem Silber hatte. Es war nicht schwierig, das Haus zu finden. Die Rauchfahne war dunkler als alle anderen, die in die Winterluft aufstiegen.
Sorg erspähte einen von Pferden gezogenen, rotblau gestrichenen Löschwagen. Ein paar Leute standen in der Nähe, und aus den Ruinen des Hauses stieg dicker Rauch auf.
Zwei Männer sprachen miteinander. Einer trug einen langen dunklen Mantel und einen Hut mit breiter Krempe. Als er ihn abnahm, um sich die Stirn zu tupfen, wurde seine Glatze sichtbar.
Sorg erblasste, und sein Herzschlag setzte aus. Angst stieg in ihm auf. Sechzehn Jahre waren vergangen, aber diesen Mann hätte er unter Tausenden wiedererkannt.
Kasan.
Er sah älter und dicker aus, doch Sorg würde das Bild des Mannes, der seinen Vater aus dem Haus gezerrt hatte, niemals vergessen. Was machte Kasan hier?
Die Ochrana war doch aufgelöst worden. Machte die Tscheka sich nun die Brutalität dieses Mannes zunutze? Die Geheimpolizei konnte solche Leute sicher gebrauchen.
Sorg fröstelte. Sein ganzer Körper wurde von einer Gänsehaut überzogen. Und dann brach ihm der Schweiß aus. Er wühlte in der Tasche nach der Laudanumtinktur. Ein paar Tropfen würden seine Nerven beruhigen.
Aber die Flasche war weg. Er musste sie in der Hektik verloren haben.
Sorg fluchte.
Er schob das Fernrohr wieder zusammen und steckte es in die Gladstone-Tasche. Dann kehrte er durch den Wald zu der Droschke zurück. Er stieg ein und legte die Decke über seine zitternden Beine.
Der Droschkenkutscher lächelte. »Alles erledigt?«
Nein, dachte Sorg. Er hatte das Gefühl, es fing gerade erst an.
11. KAPITEL
Sibirien
Um Viertel vor acht Uhr am Abend saß Jakow hinter seinem Schreibtisch aus Walnussholz und sah Unterlagen durch, als er ein lautes Klopfen an der Wagentür hörte. »Herein.«
Soba trat ein. Der Georgier rieb sich die Hände und stampfte mehrmals mit den Stiefeln auf den Boden. Seine Gesichtszüge waren vor Kälte erstarrt. Ein eisiger Wind
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