Operation Romanow
seiner Gefangennahme hatte Andrew zum letzten Mal einen Brief von Nina erhalten und erfahren, wie es ihr ging. Sie wohnte mit Sergej in einer winzigen Einzimmerwohnung mit feuchten Wänden und einer Gemeinschaftstoilette in einem Elendsviertel in Sankt Petersburg. Mit ein paar Rubeln im Monat, die ihr Vater, ein Kaufmann, der seiner einzigen Tochter fast jeden Wunsch erfüllte, erübrigen konnte, schlug sie sich mehr schlecht als recht durch.
Es brach Andrew das Herz, von seiner Familie getrennt zu sein. Aber er war nicht der Einzige, der dieses Schicksal erleiden musste. Jeder, der sich Lenin widersetzte – Männer, Frauen, ganze Familien –, wurde erschossen oder zu harter Zwangsarbeit in den eisigen Weiten der sibirischen Straflager verurteilt.
Die durchschnittliche Überlebensdauer für Gefangene in Straflagern betrug sechs Monate. Doch nur wenige überlebten länger als vier. Die mörderische Arbeit, zu der sie gezwungen wurden – Bäume fällen oder Tunnel in gefährlichen Goldminen graben –, richtete sie zugrunde. Das erbärmliche Essen, wässrige Suppe aus verfaultem Gemüse und Knorpel, sorgte dafür, dass sie langsam verhungerten. Es schrie zum Himmel, dass Lenin genau das Strafsystem, das er einst so vehement angeprangert hatte, benutzte, um seine Feinde zu vernichten.
Andrew starrte auf die Fotografie von Nina und Sergej. Immer wieder quälte ihn dieselbe Frage: Was wird aus uns werden?
Er war weit entfernt von dem einfachen, glücklichen Leben, das er einst in Sankt Petersburg geführt hatte.
Als er den Schmerz nicht länger ertrug, steckte er das Bild in seine abgewetzte Uniformjacke. Irgendwo in der Ferne hörte er das Pfeifen der Transsibirischen Eisenbahn, die an den meisten Tagen am Lager vorbeifuhr.
Das Geräusch erinnerte ihn wieder an diesen sorglosen Sommertag, als er und Nina mit Sergej zum Newa-Strand gefahren waren und Sergej über das Eis, das auf seiner Nase klebte, gelacht hatte. Und er erinnerte sich an die ungetrübte Freude in ihren Herzen, als sie mit ihrem Baby in den Armen im Sand getanzt hatten.
Als die Tür zur Krankenbaracke geöffnet wurde, erwachte Andrew aus seinen Träumen. Zwei Männer in zerlumpten Uniformen traten ein. Hauptmann Michail Wilsk war ein schlaksiger Infanterieoffizier, dessen Lippen von verkrusteten Fieberbläschen überzogen waren. Eine Kugel der Deutschen hatte sein linkes Bein unterhalb des Knies zertrümmert, und er ging am Stock.
Sein Begleiter, Unteroffizier Abraham Tarku, im zivilen Leben eigentlich Juwelier, war ein kampferprobter Soldat aus Kiew mit einer Brille mit Drahtgestell. Eines der Gläser war zerbrochen, doch irgendwie hielt es noch zusammen. Ein paar seiner Fingerkuppen fehlten. Die schwarzen Stummel wiesen auf eine Erfrierung hin.
Wilsk humpelte ans Bett und starrte auf Andrews verbundene Wunden. »Wir dachten, du würdest schon in einer Kiste liegen, Juri. Stattdessen haben wir erfahren, dass der Wachmann, der dich verwundet hat, von einem Tscheka-Offizier angeschossen wurde. Stimmt das? Wie geht es dir?«
Andrew nickte. »Es könnte viel schlimmer sein. Ja, es stimmt.«
Unteroffizier Tarku trat ans Fenster und wischte mit dem schwarzen Stumpen eines Fingers über das beschlagene Glas. Er spähte hinaus in das Schneetreiben. »Der Tscheka-Offizier ist Leonid Jakow, nicht wahr? Den würde ich unter Tausenden wiedererkennen.«
»Ja, es ist Jakow.«
»Ich habe ihn aus dem Zug steigen sehen, der auf dem Nebengleis hier im Lager gehalten hat, bevor man Sie auf einer Bahre herausgetragen hat.«
Wilsk runzelte die Stirn. »Sieht so aus, als hättest du einen Schutzengel, Juri. Woher kennst du ihn?«
Andrew stand auf und trat ans Fenster, ohne auf die Schmerzen zu achten. »Jakow hat in unserer Einheit gedient. Er war mein Feldwebel, und ein guter dazu.«
Unteroffizier Tarku spuckte auf den Boden und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Das war, bevor er zu den Roten übergelaufen ist. Ich hab gehört, dass er jetzt Kommissar ist. Fährt mit seinem Panzerzug auf Lenins Befehl durchs ganze Land und metzelt unsere Männer nieder oder schickt sie ins Gefangenenlager.«
Wilsk hob die Augenbrauen. »Warum ist Jakow eingeschritten, um dich zu retten, Juri?«
»Sie und Jakow waren einmal enge Freunde, fast wie Brüder, nicht wahr, Herr?«
Andrew strich sich über die Wange und dachte angestrengt nach. Es schneite noch immer. »Das ist jetzt nicht wichtig. Ich habe schlechte Neuigkeiten, und ihr müsst mir versprechen,
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