Operation Schneewolf - Meade, G: Operation Schneewolf - Snow Wolf
Es kommt mir seltsam vor, wie aus einem anderen Leben. Ich habe sehr viel aus meiner Vergangenheit verdrängt. Es kam mir wie ein schrecklicher Alptraum vor. In dem Augenblick, da ich den Ordner aufschlug, habe ich mir tatsächlich eingebildet, daß ich es erfolgreich begraben hätte.«
»Du mußt es mir erzählen.«
Lukin schüttelte den Kopf. »Es wird nichts nützen. Ich habe über zwanzig Jahre lang versucht, es zu vergessen. Und vielleicht ist es besser, wenn du es nicht weißt.«
Die Gefühle drohten Lukin zu überwältigen. Slanski legte die Hand leicht auf die Schulter seines Bruders. »Nimm es nicht so schwer, Petja.«
Sie blieben einige Augenblicke schweigend sitzen. Dann sagte Slanski: »Das Zusammensein mit dir und Katja kam mir oft wie die einzige Wirklichkeit vor, die ich kannte. Als ich euch beide in dieser Nacht im Waisenhaus zurückgelassen habe, hatte ich das Gefühl, alles verloren zu haben. Ich habe nie erfahren, was aus euch geworden ist. Und dieser Schmerz war schlimmer, als euch tot zu wissen. Es hat mir das Herz herausgeschnitten und nur ein Loch übrig gelassen, wo ihr beide gewesen seid. Ich muß es wissen.«
Lukin schaute zur Seite. In der Nähe der Stadt sah er die Lichter des Verkehrs, die sich durch den Schnee bewegten. Die Szenerie schien so normal, obwohl in seinem Inneren der Aufruhr tobte. Er spürte die Qual wie einen scharfen Stich in der Brust und drehte sich um.
»In der Nacht, in der du geflohen bist, haben Katja und ich dir vom Fenster aus hinterhergeschaut. Es war, als würden wir noch einmal Mutter und Vater verlieren. Dasselbe Leid, derselbe Schmerz. Katja war untröstlich. Sie hat dich geliebt, Mischa. Du warst für sie Vater und Mutter.
Es muß gegen vier Uhr morgens gewesen sein, als du weggelaufen bist. Katja hat es das Herz gebrochen, und sie wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Ich konnte ihr nicht helfen. Eine der Aufseherinnen ist in den Schlafsaal gekommen und hat uns gefunden. Als sie entdeckte, daß du geflüchtet bist, hat sie Alarm gegeben und uns in einen Keller gesperrt. Dann sind zwei Männer von der Geheimpolizei gekommen. Sie wollten von uns wissen, wohin du geflohen bist, und haben gedroht, uns zu töten, wenn wir es ihnen nicht verrieten.« Seine Stimme bebte vor Wut. »Katja war erst fünf Jahre alt, aber die Kerle haben sie geschlagen und gefoltert, genau wie mich. Nach drei oder vier Tagen haben sie uns erzählt, daß du nie wieder zurückkommen würdest. Man hätte deine Leiche auf einem Gleis in der Nähe des Metrobahnhofs Kiew gefunden. Ein Zug hätte dich zermalmt. Diese Nachricht hat Katjas Inneres zerstört, als wäre in ihr ein Licht erloschen. Ihre Augen waren leer, sie aß nichts mehr, trank nichts mehr. Man hat einen Arzt geholt. Aber die Ärzte, die in die Waisenhäuser kamen, interessierten sich nicht dafür, ob man lebte oder starb. Es gab so viele Waisen, da kam es auf eine mehr oder weniger nicht an.«
Er zögerte. »Am nächsten Tag haben sie mich in eine Besserungsanstalt gesteckt. Aus diesen Anstalten schöpft das KGB oft seine Rekruten. Katja wurde in ein Waisenhaus in Minsk geschickt. Ich habe sie nie wiedergesehen.« Er blickte auf. »Es war auch kein richtiges Waisenhaus, sondern ein spezielles Krankenhaus. Für besondere Kinder.«
»Was meinst du damit?«
»Es war ein Heim für geistig zurückgebliebene Kinder. Die wirklich schweren Fälle wurden in verschlossenen Zellen gehalten und waren wie Tiere an ihre Betten gekettet. Aber Katja fehlte eigentlich nichts, außer daß sie ein gebrochenes Herz hatte und niemanden an sich heranließ.« Lukin machte eine Pause. »Als der Krieg kam und die Deutschen näherrückten, ordnete Stalin an, daß sämtliche Insassen von Spezialkrankenhäusern liquidiert werden sollten, um Nahrungsmittel zu sparen. Sie führten die Patienten in Gruppen in die Wälder und erschossen sie. Katja war unter ihnen.«
Nach einer langen Pause sagte Slanski tonlos: »Also ist Katja meinetwegen gestorben?«
»Nein, nicht deinetwegen. Gib nicht dir die Schuld. Du hast getan, was du tun mußtest.«
»Wenn ich geblieben wäre, hätte sie überlebt.«
»Ganz gleich, was du denkst, es war richtig, daß du geflohen bist. Wärst du geblieben, hätte es dich auch zerstört. So, wie es mich zerstört hat. Nicht körperlich, aber geistig. Ich bin zu dem geworden, was unsere Eltern am meisten verabscheut haben.«
Slanski stand auf. Er holte tief Luft und schloß die Augen, als könnte er den Schmerz nicht
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