Operation Schneewolf - Meade, G: Operation Schneewolf - Snow Wolf
keinen Leichnam begraben, sondern nur einen Sarg voller Steine.«
»Was ist aus Lebel und Irina geworden?«
Anna Chorjowa lächelte. »Henri hat ein Bekleidungsunternehmen in Tel Aviv eröffnet. Sie haben geheiratet und glücklich zusammengelebt, bis Henri vor zehn Jahren gestorben ist. Irina ist ihm kurz danach ins Grab gefolgt.«
»Und Juri Lukin?«
Anna blickte lange schweigend in den Regen hinaus. Ihr Gesicht hatte einen traurigen Ausdruck, als sie mich wieder anschaute.
»Er hat es an diesem Abend noch bis zum Zug geschafft, sehr zur Erleichterung seiner Frau. Aber er war fassungslos, wie Sie sich denken können. Er hatte nach so vielen Jahren seinen Bruder wiedergefunden, um ihn sofort wieder zu verlieren. Als wir in Helsinki eintrafen, wurden wir mehrere Tage lang von Branigan verhört. Danach habe ich Lukin nie mehr wiedergesehen. Was ich sehr schade finde. Er war ein wirklich bemerkenswerter Mann, Mr. Massey.«
»Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?«
Sie drückte ihre Zigarette aus. »Wollen Sie das wirklich wissen?«
»Er ist das letzte Teil des Puzzles«, entgegnete ich.
»Ich kann Ihnen nur sagen, was die CIA mir erzählt hat. Er und seine Frau sind von Helsinki nach Amerika geflogen. Man gab ihnen neue Identitäten und hat sie in Kalifornien angesiedelt. Dort hat seine Frau einem Sohn das Leben geschenkt. Drei Monate später, so wurde mir gesagt, ist Juri bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
»Glauben Sie, daß der KGB ihn umgebracht hat?«
»Das glaube ich nicht. Es war eindeutig ein Unfall, Mr. Massey. Und ich bin auch sicher, daß die CIA ihn nicht ermordethat. Wäre Lukin nicht gewesen, wäre die Operation sicher nicht so erfolgreich verlaufen. Aber ich nehme an, daß sein Tod wahrscheinlich sowohl dem Kreml als auch Washington nicht ungelegen kam. Noch ein Zeuge weniger, der die ganze Wahrheit kannte.«
»Was ist mit seiner Frau und seinem Sohn passiert?«
»Das weiß ich leider nicht.«
Ich blieb einige Augenblicke ruhig sitzen und ließ alles auf mich einwirken. Es hatte zu regnen aufgehört, und hinter den trüben Wolken lugte die Sonne hervor. Sie ließ die goldenen Kuppeln des Kreml und die hellen, bonbonfarbenen Türme der Basilius-Kathedrale erstrahlen.
»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
Sie lächelte. »Das hängt davon ab, wie persönlich sie ist.«
»Haben Sie jemals wieder geheiratet?«
Sie lachte freundlich. »Meine Güte, was für eine merkwürdige Frage. Die Antwort lautet nein. Sascha hat sich mit einem netten russischen Emigranten in Israel vermählt. Sie haben einen Sohn namens Alexej. Und eine Tochter, Rachel. Die haben Sie bei Ihrer Ankunft kennengelernt.« Sie lächelte. »Ich habe zwei bemerkenswerte Männer in meinem Leben geliebt, Mr. Massey. Meinen Ehemann und Alex. Ich glaube, das reicht vollkommen.«
»Sie haben Alex Slanski geliebt?«
»Ja. Nicht so, wie ich Iwan geliebt habe, aber ich habe ihn geliebt. Für uns war nie ein Happy-End vorgesehen, aber das wußten wir beide. Was sagt man doch gleich? Eine verlorene Seele. Das trifft genau auf Alex zu. Wahrscheinlich wußte er, daß er bei diesem Auftrag sterben würde, und vielleicht wollte er es sogar. Ich glaube, für ihn war es Bestimmung, in Moskau zu sterben. Und Stalin zu töten war dieses Opfer wert. Denn es war die ultimative Rache für die Verbrechen an seiner Familie. Und indem er dieses Opfer brachte, hat Alex der Welt einen großen Dienst erwiesen, Mr. Massey. In Washington hat es genauso viele Stoßseufzer der Erleichterung über Stalins Tod gegeben wie in Moskau.«
Die Tür öffnete sich leise. Das dunkelhaarige Mädchen stand da. Sie hatte sich eine Bluse und einen Rock angezogenund sah wunderschön aus. Ihre langen Beine waren gebräunt, und das Haar fiel ihr bis auf die Schultern.
»Nana, der Wagen der Botschaft steht bereit. Sie wollen uns zum Flughafen bringen.«
Das Mädchen lächelte mich an, und ich lächelte zurück. Sie hatte dieselben Gesichtszüge wie ihre Großmutter. Dieselben braunen Augen und dieselbe Ausstrahlung. Ich glaube, sie ähnelte der jungen Anna Chorjowa. Ich konnte Alex Slanski verstehen und auch meinen Vater, daß sie sich in Anna verliebt hatten.
»Danke, Rachel, wir sind auch fast fertig. Sag dem Fahrer, daß wir in einer Minute kommen.«
Das Mädchen blickte mich wieder lächelnd an. »Versprechen Sie mir, daß Sie Großmutter nicht länger aufhalten?«
»Versprochen.«
Sie ging und schloß die Tür hinter sich.
Anna Chorjowa
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