Operation Schneewolf - Meade, G: Operation Schneewolf - Snow Wolf
gegenüberliegenden Ufers vorübergleiten.
Dieses Geräusch rief stets eine bestimmte Erinnerung in ihm wach, und für einen Moment blieb er mit geschlossenen Augen still sitzen.
An einem schon lange zurückliegenden Winterabend hatte er zum ersten Mal die Lichter Amerikas erblickt.
Der kleine Jakob Masenski war erst sieben Jahre alt gewesen, aber er konnte sich noch heute an die Körpergerüche und die fremden Stimmen auf Ellis Island erinnern.
Es waren Ukrainer, Balten, Russen gewesen, dazwischen Iren, Italiener, Spanier und Deutsche. Sie alle wollten im gelobten neuen Land ein neues Leben beginnen.
Jakob war mit seinen Eltern 1919 aus Rußland gekommen. Zwei Jahre nach der bolschewistischen Revolution.
Stanislaw Masenski war in St. Petersburg am königlichen Hof beschäftigt gewesen. Seine Familie war vor zwei Generationen aus Polen eingewandert. Jakob konnte sich immer noch sehr genau an die winterlichen Spaziergänge in den Parks des prächtigen goldenen Palastes von Katharina derGroßen erinnern. Stanislaw Masenski war ein intelligenter Mann. Er las gern und spielte Schach. Hätte er nicht das Pech gehabt, in eine arme Familie hineingeboren zu werden, hätte er es vielleicht bis zum Rechtsanwalt oder Arzt gebracht, und nicht nur bis zum bescheidenen Zimmermannsmeister.
Außerdem trug Stanislaw Masenski ein Geheimnis mit sich, das zu seiner sofortigen Entlassung geführt hätte, wenn seine Arbeitgeber es erfahren hätten.
Er war ein glühender Anhänger der Menschewiki und verachtete den Adel und alles, wofür dieser stand, aus tiefstem Herzen. Er glaubte, die Zukunft Rußlands läge in der Demokratie und Freiheit und daß eine Veränderung bevorstand, ob es dem Zar nun paßte oder nicht. Als die Bolschewisten St. Petersburg einnahmen, war er alles andere als erfreut.
»Glaub mir, Jakob«, pflegte Jakes Vater gern zu sagen, »wir werden für diese rote Tollheit einen hohen Preis bezahlen. Wir brauchen ein neues Rußland, aber nicht dieses neue Rußland.«
Niemand war von der bolschewistischen Revolution mehr überrascht als Stanislaw Masenki. Fast aus dem Nichts war sie wie ein Wirbelwind über Rußland hereingebrochen – wo doch die Menschewiki lange Zeit die vorherrschende Kraft für eine Veränderung gewesen waren. Das aber wußten Lenins Bolschewiken natürlich auch. Infolgedessen wurde jede Bedrohung ihrer angekündigten Revolution gnadenlos zerschmettert.
Eines Tages kamen sie, die Bolschewisten: drei Männer mit Gewehren.
Sie verschleppten Stanislaw mit vorgehaltenen Bajonetten. Seine schwangere Frau und sein Sohn sahen ihn erst nach seiner Freilassung, drei Tage später. Er war fast zu Brei geschlagen worden, und man hatte ihm die Arme gebrochen. Er konnte von Glück reden, daß er keine Kugel in den Kopf bekommen hatte. Doch Stanislaw wußte, daß das noch kommen konnte.
Folglich packten er und seine Frau ihre Habseligkeiten auf einen Pferdewagen, den ihnen ein Verwandter großzügig geschenkt hatte, und machten sich mit ihrem Sohn auf denWeg nach Estland. Das Geld, das sich Jakobs Eltern erbettelten und zusammenschnorrten, hatten sie für die Fahrkarten auf einem schwedischen Schoner ausgegeben, der von Tallinn nach New York segeln sollte.
Es war ohnehin eine schwierige Winterüberfahrt, doch die scharfen Ostwinde machten die Sache noch schlimmer. Der Schoner wurde durchgerüttelt und von sieben Meter hohen Wellen gebeutelt. Die Einwanderer im Frachtraum mußten Schreckliches erdulden. Am fünften Tag erlitt Nadja eine Frühgeburt.
Stanislaw Masenski verlor dabei nicht nur sein Kind, sondern auch seine junge Frau. Als die Leichen der See übergeben wurden, brannte sich Jakob der verzweifelte Gesichtsausdruck seines Vaters unauslöschlich ein. Der Mann hatte seine junge Frau sehr geliebt, und nach diesem Verlust war er nie wieder derselbe. Ein Freund von Stanislaw hatte dem jungen Jakob einmal erzählt, daß ein Mann über den Verlust einer wunderschönen, jungen Frau niemals hinwegkommt. Jetzt glaubte er es, als er miterleben mußte, wie sein Vater Jahr für Jahr in sich gekehrter wurde.
Bis zur Weltwirtschaftskrise führten Stanislaw und sein junger Sohn ein recht angenehmes Leben in Amerika. Stanislaw hatte sich in Brighton Beach in Brooklyn niedergelassen, im sogenannten Little Russia. Es wurde wegen der russischen Einwanderer so genannt, die hier lebten und die erst vor der Brutalität des Zaren, dann der Lenins und schließlich vor Stalins Schreckensherrschaft geflüchtet waren.
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