Operation Zombie
aber man kann alles über eine Person erfahren, wenn sie den Mund aufmacht. Mister Sugawara sprach seine Worte viel zu deutlich aus, besonders seine harten, scharfen Konsonanten. Er über kompensierte eine zuvor entdeckte Sprachstörung, die nur auftrat, wenn er sich in einem Zustand höchster Erregung oder Nervosität befand. Dieser verbale Verteidigungsmechanismus des scheinbar unerschütterlichen Sugawara-san war mir erstmals während des großen Erdbebens '95 aufgefallen, und dann wieder '98, als Nordkorea eine atomwaffentaugliche Langstreckenrakete zu einem »Testflug« über unser Land abfeuerte. Sugawara-sans Aussprache war damals fast makellos gewesen, aber jetzt schien sie mir lauter zu sein als die Fliegeralarmsirenen meiner Jugend. Und so floh ich zum zweiten Mal in meinem Leben. Ich überlegte, ob ich meinen Bruder warnen sollte, aber es war so viel Zeit vergangen, ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn erreichen sollte oder ob er überhaupt noch lebte. Das war die letzte und vermutlich schwerwiegendste aller unehrenhaften Taten, die schwerste Bürde, die ich mit ins Grab nehmen werde.
Warum sind Sie geflohen? Fürchteten Sie um Ihr Leben?
Natürlich nicht! Wenn überhaupt, hätte ich den Tod begrüßt! Zu sterben, endlich von meinem elenden Leben erlöst zu werden, wäre fast zu schön gewesen, um wahr zu sein ... Ich fürchtete nur, ich könnte allen um mich herum abermals zur Last fallen. Jemanden zu behindern, kostbaren Raum zu vergeuden, das Leben anderer zu gefährden, weil sie versuchten, einen blinden alten Mann zu retten, der es nicht wert war, gerettet zu werden ... Und wenn diese Gerüchte, dass die Toten wieder zum Leben erwachten, nun stimmten? Was, wenn ich infiziert wurde, wieder zum Leben erwachte und eine Gefahr für meine Landsleute wurde? Nein, das sollte gewiss nicht das Schicksal dieses ehrlosen Hibakusha werden. Wenn ich sterben sollte, dann so, wie ich gelebt hatte. Vergessen, isoliert und allein.
In dieser Nacht machte ich mich auf den Weg und reiste auf Hokkaidos DOO-Expressway nach Süden. Ich hatte nur eine Flasche Wasser und Kleidung zum Wechseln dabei und mein Ikupasuy, eine lange, flache Schaufel, nicht unähnlich dem Spaten der Shaolin, die mir gleichzeitig viele Jahre als Gehstock gedient hatte. Zu der Zeit herrschte noch ein gewisses Maß an Verkehr auf den Straßen - unser Öl aus Indonesien und vom Golf sprudelte noch und viele Lastwagenfahrer und private Motorisierte waren so freundlich und nahmen mich mit. Bei jedem Einzelnen drehte sich unser Gespräch um die Krise: »Haben Sie gehört, dass die Selbstverteidigungstruppe mobilisiert wurde?«; »Haben Sie gehört, dass es gestern Nacht hier in Sapporo zu einem Ausbruch gekommen ist?« Niemand war sicher, was der nächste Tag bringen, wie weit die Unbill sich ausbreiten oder wer das nächste Opfer werden würde, aber ganz gleich, mit wem ich sprach oder wie ängstlich sie sich anhörten, jedes Gespräch endete unweigerlich mit: »Aber ich bin sicher, die Behörden werden uns sagen, was wir tun müssen.« Ein Lastwagenfahrer sagte: »Jetzt wird es jeden Tag so weit sein, warten Sie nur geduldig ab, und machen Sie kein öffentliches Aufhebens.« Das war die letzte menschliche Stimme, die ich hörte, am Tag bevor ich der Zivilisation den Rücken kehrte und mich in die Hiddakaberge zurückzog. Ich war sehr vertraut mit diesem Nationalpark. Ota-san hatte mich jedes Jahr dorthin mitgenommen, um Sansai zu sammeln, das wilde Gemüse, das Botaniker, Anhalter und Chefköche von allen Inseln der Heimat anlockt. So wie ein Mann, der oft mitten in der Nacht aufsteht, die Position jedes Gegenstands in seinem dunklen Schlafzimmer kennt, so kannte ich jeden Fluss, jeden Stein, jeden Baum und jedes Fleckchen Moos dort. Ich kannte sogar jede Onsen, die zur Oberfläche blubbert, daher konnte ich jederzeit ein reinigendes heißes Mineralbad nehmen. Jeden Tag sagte ich mir: »Dies ist der perfekte Ort, um zu sterben, bestimmt habe ich bald einen Unfall, vielleicht einen Sturz, oder mir wird übel, ich fange mir eine Krankheit ein oder esse eine giftige Wurzel, oder ich handle endlich einmal ehrenhaft und höre ganz auf zu essen.« Und doch sammelte ich jeden Tag Vorräte und badete und zog mich warm an und achtete auf meine Schritte. Sosehr ich mich nach dem Tod sehnte, tat ich doch alles Erforderliche, um ihn zu verhindern. Ich hatte keine Ahnung, was sich im Rest meines Landes abspielte. Ich konnte in der Ferne Geräusche hören,
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