Opernball
ihre Kinder prinzipiell nicht anziehen wollten, auch um sechs Uhr abends nicht, wenn die Sonne hinter das Dach des Rundfunkgebäudes tauchte und die Erzählungen der Mütter in ein monotones »Jetzt zieh endlich Deinen Pullover an, es wird schon kalt!« übergingen. Im übrigen ließen sie in ihren Bäuchen, über die sie manchmal verstohlen mit den Händen streichelten, neue Kinder wachsen. Gegen sieben Uhr abends kamen ein paar Väter mit Vollbärten und nahmen den Müttern die Westen und Getränketaschen ab.
Im hinteren Teil des Parks, wo auch nachmittags nur selten Mütter mit Kinderwagen und Kinder mit Fahrrädern vorbeikamen, saß Feilböck. Der Polier, der Blade und ich trafen getrennt ein. Ich war von der U-Bahn-Station Karlsplatz die Argentinierstraße hinaufgegangen, der Polier hatte sein Auto irgendwo in der Nähe des Elisabethplatzes geparkt, der Blade war mit der Autosbuslinie 13A gekommen. Es wurde schon beim ersten Treffen deutlich, daß Feilböck gegen den Geringsten Stimmung machte. Nicht, daß er ihn direkt angriff, aber er schwächte ab, er wollte dies und jenes berücksichtigt wissen, er brachte Überlegungen und Taktiken ins Gespräch, die der Geringste zu wenig beachtet habe. Von Treffen zu Treffen sprach er offener mit uns.
»Steven Huff ist großartig«, sagte Feilböck, »doch er neigt zum Putschismus. Das ist seine Stärke und seine Schwäche gleichzeitig. Nichts gegen Harmagedon. Der Geringste konzentriert sich ganz auf dieses Ziel. Jedes Detail wird genau geplant, kein Jota bleibt unbedacht. Aber was kann dabei rauskommen? Ohne Menschen hinter uns werden wir die Machtprobe nicht bestehen. Das Christentum hat nicht gesiegt, weil es Hexen und Häretiker verbrannte, sondern weil die Menschen zu Tausenden zu den Hinrichtungen strömten und applaudierten.«
Daß Feilböcks Vorbehalte gegen den Geringsten plötzlich verschwunden wären, hatte keiner von uns angenommen. Keinesfalls hatten wir jedoch damit gerechnet, daß er sie aussprechen würde. Und dann der eklatante Bruch des Abkommens. Feilböck scheute sich nicht, sowohl Harmagedon als den Geringsten in einem öffentlichen Park zu erwähnen. Jeder, der es einigermaßen intelligent anstellte, hätte Zeuge dieser Gespräche werden können. Zum Glück waren den Müttern unsere Treffen offenbar egal. Niemand schien sich für uns zu interessieren. Tatsächlich gab es nur einen Zeugen. Er war nicht anwesend, aber ihm wurden die Gespräche gleich mehrfach berichtet. Der Geringste riet mir, Feilböck entgegenzukommen. Nicht allzusehr, damit er keinen Verdacht schöpfe. Aber wenn ich ein wenig auf seine Argumente einginge, sollte ihn das dazu bringen, noch offener zu reden. Offenbar hatte er dasselbe auch den anderen geraten.
»Gut und schön«, sagten wir, »willst Du jetzt auf die Feuertaufe verzichten und wieder Gürtel putzen?«
»Nein, nicht verzichten«, antwortete er, »wir können es aber nicht dabei belassen. Angenommen, der Plan gelingt, und die Macht liegt am Boden. Wir sind aus dem Nichts aufgetaucht und müssen, wenn wir Pech haben, genauso schnell wieder verschwinden. Wo bleibt der Anspruch auf die Führung? Nicht anvertrauen, aber zutrauen muß man sie uns. Eine Bewegung mit großen Zielen muß deshalb ängstlich bemüht sein, den Zusammenhang mit dem breiten Volke nicht zu verlieren. Sie hat jede Frage in erster Linie von diesem Gesichtspunkte aus zu prüfen. Wir aber verstecken uns.«
»Wie meinst Du das«, fragten wir. »Was sollten wir tun? Willst Du Flugblätter verbreiten und herausposaunen, daß wir einen Anschlag auf den Opernball planen?«
»Stellt Euch nicht dümmer, als Ihr seid«, fuhr er uns an. »Oder wollt Ihr die Dummen nur spielen?«
Seine Stimme war laut geworden. Viel zu laut. Er sah uns nacheinander an, und wir fühlten uns nacheinander durchschaut.
»Warum stellt Ihr Euch so blöd an?« fragte er.
»Das muß doch jedem Schwachkopf einleuchten«, fügte er hinzu, leise, fast unhörbar.
»Was?«
»Daß es nicht genügt, einen Feind zu haben. Es geht darum, ihn kenntlich zu machen.«
»Aber genau das«, sagten wir, »soll Harmagedon doch bewirken!«
»Soll Harmagedon bewirken, und kann es bewirken«, sagte Feilböck, »aber wird es nicht bewirken. Der Feind fällt nicht vom Baum wie ein reifer Apfel. Da würde ihn niemand bemerken, er wäre einer unter vielen. Ein Feind muß wie ein alter Dorfbrunnen der Mittelpunkt des Lebens sein. Er muß gehegt und gepflegt werden. Er muß eine einfache, einprägsame
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