Opernball
Kaffee. Wir hatten längst aufgehört, Kaffee zu trinken. Das war uns am leichtesten gefallen. Wollte Feilböck uns mit seinem Verhalten etwas sagen? Während er trank, las er weiter in der Zeitung. Nie sah er zu uns herüber. Den hat uns der Geringste geschickt, dachte ich zuerst. Er soll uns auf unsere Fehler aufmerksam machen. Aber Feilböck hätte auch reden können. Oder wollte er uns mit seinem Schweigen zu verstehen geben, daß wir beschattet wurden? Von der Polizei? Feilböck ging an uns vorbei zum Ausgang, ohne eine Bemerkung und ohne einen Blick.
In den nächsten Tagen wechselten wir uns beim Mittagessen im Kaufhaus ab. Tag für Tag war von Feilböck zu berichten. Er kam, setzte sich ins Rayon der Kellnerin und vermied jeden Kontakt mit uns. Bis eines Tages der Blade mit der Botschaft zurückkam: »Freitag, 15 Uhr, Anton-Benya-Park.«
Feilböck hatte uns mißtraut. Er dachte, wir würden uns jeden zweiten Tag im Auftrag des Geringsten treffen und einen Plan verfolgen, von dem er ausgeschlossen sei, der sich vielleicht sogar gegen ihn richte. Er wollte uns zeigen, daß er alles durchschaut habe.
Aber damals hatten wir vor Feilböck noch keine Geheimnisse – und keinen Grund dazu. Unsere Vereinbarung schien zu halten. Oder doch nicht? Die Wahrheit sollte ich erst später begreifen. Wenn der Geringste die Leine locker ließ, dann nicht, weil er uns vertraute, sondern um uns zu beobachten. Er rechnete immer mit dem Verrat. Vielleicht wollte er ihn sogar ermöglichen.
Ich sorgte dafür, aber wahrscheinlich taten die anderen es mir gleich, daß der Geringste von unseren Begegnungen erfuhr, von denen im Kaufhaus und von denen im Anton-Benya-Park. Der Geringste erfuhr alles. Es war nicht möglich, ihm gegenüber ein Geheimnis zu haben. Er hakte seinen kleinen Finger in den meinen und zog daran.
Niemand konnte sich ihm widersetzen. Diese ineinandergehakten Finger waren die Beschwörung unseres Bundes. Sie öffneten mir den Mund, auch wenn ich gerade noch vorgehabt hatte, das Verhalten von Feilböck lieber noch eine Zeit zu beobachten. Der Geringste ließ den kleinen Finger erst wieder los, wenn ich ausgesprochen hatte.
»Zu verschweigen eine Intrige«, sagte er, »ist schlimmer als die Intrige selbst. Der Intrigant ist mutig, er handelt, er verfolgt ein Ziel. Der schweigende Zuseher ist ein Feigling, er überläßt sein Schicksal anderen. Der Schweigende muß bestraft werden schlimmer als der Handelnde.«
Obwohl es kaum Interessantes zu berichten gab, erzählte ich dem Geringsten alles. Vielleicht sogar ein wenig mehr, um zu größerem Vertrauen zu gelangen. Lügen, Verleumdungen kamen nicht in Frage, Übertreibungen hingegen hatten etwas Persönliches. Sie waren eine versteckte Empfehlung. Aber ich mußte vorsichtig sein. Manchmal ließ der Geringste den kleinen Finger plötzlich los, und ich bekam einen Klaps auf den Kopf, oder einen Fauststoß auf die Brust. Da war es besser, die Erzählung abzubrechen, weil sie ihn offenbar überhaupt nicht interessierte. Das änderte sich, als die Geschichten mit Feilböck begannen. Ich nahm meine Chance wahr, ganz für mich allein, ohne den anderen etwas zu sagen. Der Geringste ließ sich nicht anmerken, ob er bereits etwas wußte. Vielleicht glaubte damals jeder von uns, ihm allein komme das Verdienst zu, einen Abtrünnigen verraten zu haben.
Spätestens ab der zweiten Maiwoche war klar, daß man Feilböck am Freitagnachmittag im Anton-Benya-Park treffen konnte. Zeit dafür hatten nur wir drei vom Bautrupp, denn Pandabär und der Lange mußten arbeiten. Der Park war nicht überlaufen. Er wurde nur von Kindern und gebärsüchtigen Müttern frequentiert, nicht von Ausländern. Einmal zog eine Schar slawischer Kinder durch den Park, entzündete Knallkörper und köpfte Rosen. Wir sagten, wir seien von der Fremdenpolizei. Dann gaben wir jedem Kind ein paar Ohrfeigen.
»Wenn ihr euch hier noch einmal blicken laßt«, sagten wir, »kommt ihr sofort in Schubhaft.«
Da liefen sie und rieben sich die Backen. Ansonsten war das der friedlichste Park von Wien. Auf den Bänken oder am Rande der Sandkiste saßen Frauen im Alter von zwanzig bis fünfunddreißig Jahren und erzählten einander alles, was ihre Kinder taten. Vom Frühstück bis zum Abendessen, von den Zicken beim Anziehen der Unterhose bis zu den Kaprizen beim Zähneputzen am Abend ließen sie keinen Moment unerwähnt. In ihren rechten Händen hielten sie Eisteepackungen, in ihren linken Pullover und Westen, die
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