Opernball
war, die trotz sicherer Zusage nicht erschien. Ich spielte, zur vereinbarten Zeit, etwa um Null Uhr vierzig, das Interview ein. Es war nach einer chaotischen halben Stunde, in der mein gesamtes Konzept durcheinandergeraten war, der erste Programmpunkt, der wieder mit dem Regieplan übereinstimmte. Während das Interview lief, sagte die zuständige Kamerafrau ins Kopfmikrophon, sie könne Catherine Petit nicht finden. Offenbar sei sie noch gar nicht eingetroffen. Ich gab die Nachricht sofort an unseren Moderator weiter, der es verstand, die Einspielung als Kostprobe einer zu erwartenden Delikatesse anzupreisen. Ich dachte, Catherine Petit sei in den Demonstrationswirren steckengeblieben. Später erfuhr ich, es waren nicht die Demonstranten, es war ein übereifriger Zollbeamter, der ihr das Leben rettete.
Daß der Generaldirektor Michel Reboisson zum Opernball in Wien sein würde, hatte ich als selbstverständlich angenommen. Im Dezember schickte ich an sein Büro ein Fax mit der Frage, wie viele Plätze ich für ihn reservieren solle und welche Loge ihm am liebsten sei. Ich faxte auch einen Plan, auf dem ich alle Logen, die noch zu unserer Disposition standen, ankreuzte. Am nächsten Tag rief mich unser Wiener Geschäftsführer an. Michel Reboisson werde vom 15. bis zum 18. Jänner hier sein. Aber zum Opernball werde er nicht kommen. Eine Loge nach meiner Wahl solle aber bis zuletzt für mögliche Gäste des Generaldirektors bereitgehalten werden.
Zwar hatte ich erwartet, Michel Reboisson würde mir persönlich antworten. Daß er statt dessen dem Geschäftsführer Bescheid gab, war aber so ungewöhnlich nicht. Schließlich kannte er ihn wesentlich länger als mich und hatte beruflich ständig mit ihm zu tun.
Weihnachten verbrachte ich mit Fred in London. Es war, abgesehen von unseren Flügen nach Moab und Basel, unsere erste und einzige gemeinsame Reise seit seiner Kindheit. Wir wohnten bei meinen Eltern. Fred verbrachte zwei Tage bei seiner Mutter. Ich kam nicht mit. Ich hatte nicht einmal Lust, mit ihr zu telefonieren. Fred war erwachsen. Mit Heather hatte ich nichts mehr zu besprechen.
Meine Mutter zog alle Register ihrer Kochkunst. Sie briet einen Truthahn, sie kochte einen Yorkshire Pudding, sie marinierte Forellen. Wie in Kindheitstagen saß ich am kleinen Küchentisch und schaute ihr zu. Sie stellte unendlich viele Fragen. Ich mußte ihr meine Wohnung beschreiben und mein Büro. Sie interessierte sich für mein Privatleben. Dann wollte sie alles über Fred wissen. Schließlich sprachen wir über Jugoslawien, Ungarn, Rumänien, die Slowakische Republik und erreichten so über Umwege jenen Ort, der sie am meisten interessierte, Prag. Irgendwann war dann dieser herrliche Geruch von Ischler Bäckerei im Raum, und mir kam es plötzlich vor, als wäre ich aus diesem Haus nie fortgegangen.
Beim Mittagessen am Weihnachtstag, als Fred bei Heather war, erzählte mein Vater von seiner Kindheit in Wien. Während wir die Vorspeise, schottischen Lachs, aßen, füllte sich der Raum mit ganz anderen Erinnerungen, als ich sie bisher von ihm gehört hatte.
»Das Weihnachtsfest haben wir nicht gefeiert. Auch nicht Chanukka. Aber die Hausgehilfin war am Abend des 5. Dezember als Krampus verkleidet und brachte Geschenke. Ich erkannte sie, trotz ihrer Teufelsmaske. Und doch war ich nie ganz sicher. Unser großes Familienereignis war das Pessachfest. Meine Eltern fuhren mit mir nach Preßburg zu den Großeltern. Obwohl man die ganze Woche kein gesäuertes Brot essen durfte, ging meine Mutter mit mir zwischendurch in die Innenstadt und kaufte mir heimlich ein Kipferl. Meine Großeltern durften das nicht erfahren. An den beiden Sederabenden saßen alle Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen um einen großen Tisch. Es wurde ein eigenes, nur für dieses Fest bestimmtes Geschirr aufgetragen. Ich durfte vom koscheren Wein kosten. In der Mitte des Tisches stand ein gefülltes Weinglas für den Propheten Elias. Während mein Großvater aus einem bunt bebilderten, hebräischen Buch die Haggadah vorlas, schaute ich immer wieder auf das Weinglas, um den Moment, wenn Elias daraus trinkt, nicht zu versäumen. Im Laufe des Abends kam es mir vor, als ob der Wein tatsächlich weniger geworden wäre. Ich war stolz, wenn ich dann die zehn Fragen stellen durfte. ›Wodurch ist ausgezeichnet diese Nacht vor allen anderen Nächten?‹ Und die Erwachsenen erzählten von der Sklaverei und vom Auszug unseres Volkes aus Ägypten. Nach langen Geschichten
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