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Opernball

Opernball

Titel: Opernball Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Haslinger
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Schnittseite ein paar Tropfen gelber Flüssigkeit aus. Ich überlegte, was das sein könnte, und schob die Haut noch einmal über den Knochen. Nachdem ich den Finger ein zweites Mal gewaschen hatte, griff ich ihn nur mehr mit einer Papierserviette an. Ich ließ ihn in einen Gefrierbeutel fallen, den ich zusammenrollte und in die Hosentasche steckte. Damit fuhr ich zum Karlsplatz.
    Es war sicher schon zwei Uhr nachts. Ich ging beim Café Museum in die Passage hinab. Dort gab es keine Überwachungskamera. Das wußte ich. Es war ja auch der Grund, warum der Geringste diesen Teil der Passage für seine Predigten gewählt hatte. Ich ließ den Finger aus dem Gefrierbeutel gleiten und machte mich davon. Nach drei Stunden Schlaf fuhr ich zur Baustelle. Ich mußte vor den Zimmerleuten dort sein, um unbemerkt das Beil zu ihrem Werkzeug zurücklegen zu können.
     
    Claudia Röhler, Hausfrau
    Zweites Band
     
    Es ging von Anfang an alles schief. Den Ballkarten war ein Informationsblatt beigelegt, auf dem wir gebeten wurden, möglichst schon zwei Stunden vor der Eröffnung in die Oper zu kommen, da Demonstrationen angekündigt und daraus resultierende Behinderungen nicht auszuschließen seien. Um vier Uhr nachmittags landeten wir mit leichter Verspätung in Schwechat. Sigrid erwartete uns. Sie war besorgt wegen Vaters Zustand. Er ging an Krücken, um sich für den Abend zu schonen. Auch Sigrid hatte er zum Opernball eingeladen. Sie hatte, wie wir anfangs auch, abgesagt, aber sie war dabei geblieben. Vater saß neben ihr auf dem Beifahrersitz. Er mußte ihr den gesamten Genesungsverlauf erzählen. Immer wieder fragte sie nach Details, so, als würde sie meinen unzähligen telefonischen Berichten nicht trauen. Sie riet Vater, diesen und jenen Arzt aufzusuchen. Sie seien schon vorinformiert. Offenbar hatte sie wochenlang nur mit Ärzten telefoniert. In Berlin hatte sie gleich eine ganze Batterie von medizinischen Kapazitäten auf Vater angesetzt. Vater sagte: »Du tust ja so, als ob nur noch ein Großaufgebot der Elitemedizin mich retten kann. Mir geht es gut. Das Bein ist schon fast wiederhergestellt.«
    Als wir uns langsam im Stau der Schüttelstraße bewegten und vor uns die Urania sahen, sagte Sigrid, wir müßten, bevor wir zum Imperial führen, noch schnell in der Taborstraße vorbeischauen. Dort habe sie einen Termin mit Professor Poigenfürst, dem Primär des Lorenz-Böhler-Krankenhauses, vereinbart, dem besten Unfallchirurgen, den Wien aufbieten könne.
    »Es geht ganz schnell«, sagte sie. »Die Frankfurter Werte wurden ihm zugeschickt, er will sich nur kurz das Bein anschauen.«
    Mein Vater weigerte sich.
    »Morgen nachmittag«, sagte er, »aber nicht heute.«
    Ich sah im Rückspiegel Sigrids Augen. Sie wurden denen von Mutter immer ähnlicher. Die gleichen Falten, die gleichen Schlupflider, die in den äußeren Augenwinkeln auf den Wimpern auflagen. Sigrids Haare waren bald nach Mutters Tod grau geworden. Oder sie hatte zu dieser Zeit aufgehört, die Haare zu färben. Schließlich wurden sie gestutzt, und heraus kam, auch wenn sie das immer bestritt, die Frisur unserer Mutter. Der graue Kopf drehte sich immer wieder nach rechts. Manchmal mußte sie abrupt bremsen. Vater sagte: »Ich will noch lange leben. Daher mußt Du vor allem auf den Verkehr achten.«
    Sigrids Blick im Rückspiegel. Ihre Klugheit war von meiner Mutter immer gegen mich ausgespielt worden. Vaters Erbanlagen und ihr Fleiß hatten Sigrid, ganz ohne Protektion, einen guten Job bei der Niels-Bohr-Stiftung in Wien verschafft. Diese Stiftung wird von internationalen Konzernen finanziert und fördert Projekte auf dem Gebiet der mathematischen und physikalischen Grundlagenforschung. Sigrids Aufgabe ist es, Experten zu finden, die in der Lage sind, die Förderungswürdigkeit der eingereichten Projekte zu prüfen. Sie ist die einzige in unserer Familie, die Vaters Publikationen versteht. Es war ein kleiner Traum von ihr, einmal eines seiner Projekte zu finanzieren. Aber Vater hat sich geweigert, einzureichen. Er sagte: »Ich lebe von der öffentlichen Hand in den Mund.«
    Sigrid hat es zu etwas gebracht, ich habe nur geheiratet. In unserer ersten Frankfurter Wohnung in der Wolfsgangstraße führten Sigrid und Vater Fachgespräche, ich teilte die Eiswürfel aus. Als ich um zwei Uhr nachts, wir waren alle schon betrunken, im Wohnzimmer die Notbetten aufstellte, ging Vater zum Fenster und blickte hinüber zum Hauptquartier der amerikanischen Armee, dem ehemaligen

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