Opernball
Firmensitz der IG-Farben. Sigrid half mir, die Bettdecken zu überziehen. Vater stand noch immer am Fenster und sagte gedankenverloren: »Bei Dir ist es immer am schönsten. Aber hier zu wohnen, muß der Traum jedes Terroristen sein.«
Von da an habe ich jeden neuen Hausbewohner zum Kaffee eingeladen und mich nach seinen Lebensverhältnissen erkundigt.
Die Fahrt zum Hotel zog sich. Ich hatte Wien als eine Stadt in Erinnerung, in der man mit dem Auto schnell vorankommt. Aber der Stau machte mir nichts aus. Ich genoß es, wieder die Ringstraße zu sehen. Von der Ringstraße hat mein Vater immer geschwärmt.
»Eine Stadt ohne Ringstraße hat kein Zentrum«, sagte er. Wenn ich meine Schwester besuchte, die in unserer alten Wohnung in einem an die Ringstraße angrenzenden Bezirk wohnt, hatte ich immer, wenn ich ausging, das Bedürfnis, die Ringstraße zu überqueren. Dann erst fühlte ich mich in Wien. Als wir am Lueger-Platz vorbeifuhren, sagte mein Vater: »Die sind immer noch stolz auf ihren Antisemiten.«
Dann erzählte er Herbert, daß die Universität am Lueger-Ring liege. Fremdsprachige Kollegen würden, um ihr gutes Deutsch zu beweisen, ihre Briefe an die Universität oft mit Lüger-Ring adressieren und träfen dabei, ganz gegen ihre Absicht, die Wahrheit. Vom Lueger-Platz war es nicht mehr weit zum Imperial.
»Ihre Suiten befinden sich im fünften Stock«, sagte der Empfangschef. »Sie verzeihen, daß ich Sie nicht begleiten kann. Der Porteur de bagage wird Sie hinaufbringen.«
Porteur de bagage, das klang vornehm. In seiner blauen Montur, einem Gehrock mit goldenen Quasten und Schulterspangen, einer Hose mit goldener Nahtborte und einer Schirmkappe mit der goldenen Aufschrift Imperial, sah der kleine Südländer, der unsere Koffer trug, aus, als wäre er von einem Filmstudio ausstaffiert worden.
Unsere Zimmer, wie mein Vater sie beharrlich nannte, bestanden je aus Vorzimmer, Wohnzimmer, Schlafzimmer und Bad. Blickte man aus dem Fenster, sah man den Musikverein und dahinter die oberen Stockwerke der Technischen Universität. Alles war vergoldet, die Stühle, die Tische, die Tapeten.
»In Zukunft«, meinte Herbert, »werde ich herkömmliches Biedermeier als Neue Sachlichkeit bezeichnen.«
Mein Vater und Herbert gingen in die Hotelbar. Mich zog es in die Kärntner Straße. Es war sehr kalt. Die grünen Dächer schimmerten im Abendlicht. An der rechten Seite der Oper, neben der Abfahrt zur Tiefgarage, standen fünf große Lastwagen des Senders ETV. Zwei davon hatten französische Kennzeichen. Dahinter war ein silberner Mast aufgestellt, an dem Kabel in den verschiedensten Farben hochführten, die von der Spitze als schweres, durchhängendes Bündel zu einer Fensteröffnung oberhalb der Arkaden gespannt waren. Ich beobachtete das geschäftige Treiben der Techniker, die mit Funkgeräten herumliefen und merkwürdige Sätze von sich gaben: »Ton von Kamera vier auf Außenrelais zwei. MAZ eins zum Mischpult durchschalten. Kannst du keinen Schaltplan lesen, nicht blau, sondern gelb, du Analphabet.«
Eigentlich, überlegte ich, müßte man mich bezahlen dafür, daß ich an dieser Modenschau teilnehme.
Alle Pelzmäntel der Welt schienen sich in der Kärntner Straße versammelt zu haben. Ziemlich am Anfang, auf der Höhe des Casinos, traf ich auf eine Gruppe Jugendlicher, die Bier trank und es offensichtlich darauf abgesehen hatte, den Passanten im Weg zu stehen. Wollte man ausweichen, gingen auch die Jugendlichen, es waren vor allem Burschen, zur Seite, so daß man nicht recht wußte, wie man an ihnen vorbeikommen könnte. Ich machte einen Bogen in die Annagasse hinein und hatte plötzlich eine Hand mit einer Bierdose vor meiner Brust.
»Willst trinken?« fragte mich der Junge. Sein Gesicht war schlecht rasiert und von Alkohol und Kälte gerötet, seine Haare unregelmäßig geschnitten. Er roch nach Bier.
»Danke«, sagte ich und wich nach hinten aus.
»Komm, einen Schluck«, sagte er.
»Danke«, wiederholte ich.
»Kriegst Du trotzdem.«
Mit einer schnellen Bewegung schüttete er mir das Bier entgegen. Ich lief die Annagasse hinab, er ging zu seinen Freunden zurück. Mein heller Mantel war voller brauner Flecken. Ich begann mit einem Taschentuch daran herumzuputzen, aber es war sinnlos. Als ich ins Imperial zurückkam, merkte ich, daß ich zitterte. Herbert brachte meinen Mantel zur Hotelrezeption. Mein Vater versuchte mich zu beruhigen.
»Das kann Dir heutzutage überall passieren«, sagte er. »Am
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