Opernball
darauf, daß die SS-Männer bei ihrer Arbeit nicht nachlässig wurden. Da fiel ihm eine Hand auf, die sich bewegte, ohne daß die Schubkraft des Bulldozers diesen Körper schon erfaßt hätte. Er ließ anhalten und kletterte über die Leichen zu dieser Hand. Sie war noch warm. So kamen sie dahinter, daß sich bei der Befreiung des Konzentrationslagers unter den vorgefundenen Bergen von toten Menschenkörpern auch lebendige befunden haben mußten, die man, noch bevor sie gestorben waren, einfach auf die Leichenhaufen geworfen hatte. Sie waren schon so geschwächt gewesen, daß sie sich weder mit der Stimme noch mit Bewegungen hatten bemerkbar machen können. Ich stellte mir vor, ich läge lebendig unter diesen Leichen und würde vom Bulldozer in die Grube geschoben.
Im Alter von zwölf, dreizehn Jahren änderte sich die Faszination dieser Bilder. Mich zog nun die Tatsache an, daß die Leichen nackt waren. Ich versuchte herauszufinden, welche Leiche männlich war und welche weiblich. Bei den meisten war das schwer festzustellen, weil die Brüste der Frauen meist bis zur Unkenntlichkeit abgemagert waren. Aber es gab Ausnahmen. Auf dem Foto mit dem Bulldozer liegt im Vordergrund ein vollkommen mit Lehm verschmierter Körper mit einem großen Busen. Die Frau ist nicht abgemagert. Sie muß gleich nach der Einlieferung ermordet worden sein. Ich fand diesen Körper in der Detailaufnahme des Massengrabs wieder. Dort liegt die Frau mit dem Kopf nach unten, die Brust hängt ihr bis zum Hals, die Beine sind gespreizt. Neben ihr ragt ein Hinterteil in die Höhe, der Oberkörper ist in die Leichen eingetaucht, die Scheide ist deutlich zu erkennen. Diese Leichen waren die ersten nackten Frauen, die ich sah.
Mein Vater war sein Leben lang stolz, zu den Befreiern von Bergen-Belsen gehört zu haben. Selbst im Alter, wenn er jemanden kennenlernte, war dies das erste, was er von sich erzählte. Er hatte sich als College-Professor für Germanistik mit einem Rilke-Buch internationalen Ruhm erworben. Die Verehrer von Rilke waren freilich weniger erfreut gewesen, weil mein Vater es gewagt hatte, am Lack dieses auf Hochglanz polierten deutschen Dichterheiligen zu kratzen. Sein Buch befaßte sich ausführlich mit Rilkes konservativen politischen Ansichten, seiner Bewunderung für Mussolini und seinen antisemitischen Ausfällen. Aber darauf bildete sich mein Vater nichts ein. Er sagte: »Ich war nur zufällig der erste, der das genauer untersucht hat.«
Am liebsten hätte er Freunden nicht sein Rilkebuch, sondern Kopien des Fotos aus Bergen-Belsen geschenkt, auf dem er als Befreier abgebildet ist. Daß er bei Kriegseintritt von den Briten als verdächtiger Ausländer auf der Isle of Man interniert worden war, Hunger gelitten hatte und auf dem Fußboden schlafen mußte, schien er ihnen verziehen zu haben. Am wenigsten vielleicht den Hunger. Wenn ich von der Schule oder vom Sportplatz heimkam und sagte: »Ich habe Hunger«, korrigierte er mich sofort. »Das heißt: Ich habe Appetit. Hunger, mein Sohn, ist etwas ganz anderes.«
In seiner ersten Londoner Zeit, vor seiner Internierung, hat er die tschechische Emigrantin Blanka kennengelernt, meine Mutter. Sie war ein paar Jahre älter als er und ausgebildete Englischlehrerin. Wohlweislich verschwieg sie den Behörden, daß sie, wie so viele Emigranten, mit den Kommunisten sympathisierte. Da sie Tschechin war, wurde sie besser behandelt als deutsche oder österreichische Emigranten. Sie galt nicht unbedingt als enemy alien. Während Österreicher und Deutsche interniert wurden, bekam sie eine Stelle als Volksschullehrerin. Sie sorgte für meinen Vater, der am Anfang kein Wort Englisch sprach, und sie finanzierte ihm, bis er interniert wurde, das Studium in London. Von der Isle of Man kam er frei, weil er sich zur Armee meldete. Die Alternative wäre gewesen, sich mit anderen Emigranten nach Kanada verschiffen zu lassen. Das wollte er nicht. Dann schon lieber gegen die Menschen seiner Heimat kämpfen.
Meine Mutter hat mir erzählt, mein Vater habe sie während eines Kurzurlaubs von der Armee – das war noch vor dem D-Day – gebeten, ihn zu heiraten. Sie wollte lieber das Ende des Kriegs abwarten. Aber bevor das Kriegsende kam, kam ich. Mein Vater blieb nach dem Krieg noch fast ein Jahr in Deutschland. Als Angehöriger der britischen Armee konnte er sich frei bewegen. Er hatte in der Armee einen Decknamen bekommen. Ursprünglich hieß er Kurt Finkelstein. Als britischer Soldat erhielt er eine
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