Opernball
neue Identität als Ken Fraser. Den Namen hat er später beibehalten. Meine Mutter spielte mit dem Gedanken, nach Böhmen zurückzukehren. Mein Vater wollte nach Wien. Im Oktober 1945 fuhr er hin. Zwei Wochen später war er wieder in Deutschland, Anfang 1946 kehrte er nach London zurück und heiratete meine Mutter. So bekam auch ich seinen Decknamen.
In Wien wollte er dreierlei. Er suchte seine Eltern, zu denen 1939 der Kontakt abgerissen war. Er wollte nach der Wohnung sehen, in der er aufgewachsen war. Und er wollte den Kontakt zur KPÖ wieder aufnehmen.
In der Wohnung waren fremde Menschen. Sie gaben sich ahnungslos, wer die Vormieter waren. Auch die anderen Mieter des Hauses konnten sich nicht daran erinnern, wann und warum seine Eltern für immer ihre Wohnung verlassen hatten.
»Irgendwann waren sie auf einmal weg«, sagten sie. Die amerikanische Armee hatte Deportationslisten beschlagnahmt, aber sie waren noch nicht aufgearbeitet. Mein Vater hinterließ die genauen Daten und die Adresse meiner Mutter in London. Später bekam er von den Amerikanern einen Brief, der die schlimmsten Befürchtungen bestätigte. Sie waren nach Auschwitz deportiert worden. Das englische Auschwitzkomitee konnte später mit den Angaben der Amerikaner den genauen Tag rekonstruieren, an dem meine Wiener Großeltern vergast wurden.
Die Wohnung bekam mein Vater nicht zurück. Er hatte zwar in irgendeinem Wiener Amt einen Antrag ausgefüllt und auch dort die Londoner Adresse meiner Mutter hinterlassen, aber von diesem Amt hörte er nie wieder.
Ebenso unerfreulich verlief der Besuch in der KPÖ-Zentrale. Die alten Genossen sahen seine britische Uniform und hatten gleich eine Spezialaufgabe für ihn. Er sollte Nazimitläufer davon überzeugen, ein paar Wochen später, bei den ersten Wahlen, KPÖ zu wählen. Er, als Soldat der westlichen Alliierten, würde den Menschen größeres Vertrauen einflößen als etwa ein Emigrant aus Moskau. Mein Vater bedankte sich herzlichst für diese ehrenvolle Aufgabe und fuhr zu seiner Garnison nach Deutschland zurück.
Den Sprung aufs College schaffte zuerst meine Mutter. Sie hatte von der englischen Schule so gute Empfehlungen erhalten, daß ihr von den britischen Behörden das tschechische Studium zur Gänze anerkannt wurde. Sie bekam eine Stelle als Assistant Professor und setzte alles daran, meinen Vater im German Department unterzubringen. Zweifellos sind ihm dabei auch seine Bewährung in der Armee und die Auszeichnungen, die er bekommen hatte, behilflich gewesen. Formell schloß er sein Studium erst ab, als er längst unterrichtete.
Später habe ich mir ein paar seiner Vorlesungen angehört. Ich denke, er war ein guter Professor. Zu seinen Studenten hatte er engen Kontakt. Er brachte immer wieder welche mit nach Hause. Vermutlich gab es am Regent's College vierzig Jahre lang keinen einzigen Germanistikstudenten, dem mein Vater nicht irgendwann die Fotos von Bergen-Belsen gezeigt hatte.
Die sechziger Jahre waren keine gute Zeit, um ein Studium abzuschließen. Ich jedenfalls habe es nicht geschafft. Statt dessen hing ich lieber in der Portobello Road herum und fuhr zu den openair-Festivals auf die Isle of Wight. Jedes Studium, das ich begann, erwies sich innerhalb kürzester Zeit als Flop. Als mir mein Vater das Geld strich, verkaufte ich in der Portobello Road Wasserpfeifen und alles, was man damals darin rauchte. Das Jahr 1969 verbrachte ich in Indien. Von dort kam ich mit einem vom vielen Haschischrauchen vergeßlichen Kopf nach Hause, aber auch mit einer Erkenntnis. Zu studieren war nicht mein eigener Wille, sondern der meines Vaters.
In London erfuhr ich, daß die Amerikaner schon ein halbes Jahr zuvor auf dem Mond gelandet waren. In den indischen Dörfern und Hippie-Kolonien war mir das entgangen.
Ich bekam einen Job als Produktionsgehilfe in der Dokumentationsabteilung der BBC. Am Anfang tat ich nicht viel mehr, als Kabel und Aluminiumkoffer zu tragen. Ich hatte noch meine langen Haare und einen Vollbart. Aber das war in den unteren Rängen der BBC-Hierarchie damals keine Seltenheit. Meine Tätigkeit war langweilig, aber der Zusammenhang, das Erstellen von Dokumentarfilmen, interessierte mich. Bei Produktionsbesprechungen mischte ich mich ein. So wurde man auf mich aufmerksam. Man zog mich vom Außendienst ab und versetzte mich in die Planungsabteilung. Die deutschsprachige Erziehung kam mir dabei zugute. Ein wenig kann ich auch tschechisch verstehen. Sprechen kann ich es nicht. Wenn
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