Opernball
behauptet, er sei geprügelt worden – die nennen das ja dann gleich Folter –, wird der Dienstweg zum Schutzschild. Da hat keiner eine Chance. Der Disziplinarsenat hält eisern zu seinen Leuten. Eine Versetzung ist im Dienstrecht nicht vorgesehen, eine Entlassung wird nicht ausgesprochen. Da müßte einer schon eigenhändig sieben Giftler erwürgen.
Anders bei der Patrouille. Da kann man die Überraschungen suchen, oder man kann ihnen, wenn einem nicht danach ist, ausweichen. Die Patrouille ist im Prinzip festgelegt. Aber es gibt immer einen Grund, vom Weg abzuweichen. Leberkässemmeln wären an sich keiner gewesen, doch das Museumseck kann immer wieder mit dienstlichen Überraschungen aufwarten. Denken Sie nur an den Finger.
Befreiung
Massengräber und Leichenberge begleiteten mein Leben wie ein Fluch. Das erste Foto, an das ich mich erinnern kann, war die Abbildung eines Massengrabes. Hunderte von Leichen liegen in einer langen Grube, manche nackt, manche halb bekleidet. Auf den Körpern trampeln vier Männer herum. Sie gehören zur ehemaligen SS-Wachmannschaft des Konzentrationslagers Bergen-Belsen. Der Krieg ist vorüber. Aber diese Männer sind angehalten, den Abfall ihres eigenen Wirkens zu entsorgen. So, als hätten sie nach einem opulenten Mahl vergessen, das Geschirr zu spülen. Im Vordergrund steht rechts eine Birke, in der Mitte ein vom Leichenschichten sichtlich mitgenommener SS-Mann und links ein Mann in britischer Uniform, mit Gewehr und aufgepflanztem Bajonett.
Insgesamt hatte mein Vater vier Fotos von Bergen-Belsen. Eines war eine Detailaufnahme aus dem Massengrab des ersten Fotos. Auf die Knochen abgemagerte und verstümmelte Leichen liegen in einem unentwirrbaren Knäuel. Man muß lange schauen, um zu erkennen, welcher Fuß, welches Becken, welcher Kopf zu welchem Körper gehören. Teile sind mit Kleidungsfetzen bedeckt. Ein anderes Bild zeigt einen Bulldozer, der einen Haufen von Menschenkörpern in ein Massengrab schiebt. Dann gab es noch ein letztes Foto, auf dem eine in Decken gehüllte Frau abgebildet war. Das weiße Kopftuch umspannt einen Totenschädel. Die Hände hat sie über dem Schoß zusammengelegt, ihre Augen schauen zur Seite. Es war eine Aufnahme aus der Typhusbaracke von Belsen.
In meiner Kindheit gab es keinen einzigen Besucher, dem mein Vater nicht diese vier Fotos gezeigt hätte. Beim ersten Foto verwies er immer auf den britischen Soldaten und sagte: »Das bin ich.«
Sprachlos saßen die Besucher da, während mein Vater von dem süßlichen Aasgeruch erzählte, der das Konzentrationslager wie eine Wolke umhüllte und schon von weitem zu spüren war. Er sprach von den riesigen Leichenhaufen, die seine Truppe in Bergen-Belsen vorgefunden hatte. Sie wurden in den ersten Tagen nach der Befreiung sogar noch größer, weil täglich mehr Leichen dazukamen, als sie in der Lage waren zu bestatten. Eine Frau begann zu weinen, als sie die Abbildung des Massengrabs sah. Sie sagte, ihre Mutter sei in Bergen-Belsen umgekommen. Sie suchte auf dem Foto die Leiche ihrer Mutter.
Wir hatten viele Besucher. Fast alle sprachen deutsch. Die Roads in unserem Viertel in Hampstead wurden Straßen genannt, so viele Emigranten lebten dort. Deutsche und Österreicher teilte ich in zwei Gruppen ein. In die guten, die in unserem Haus verkehrten, und in die keiner menschlichen Regung zugänglichen Mörder, die aber zum Glück weit entfernt auf dem Kontinent lebten. Ich wußte, wo mein Vater die Fotos von Bergen-Belsen aufbewahrte, und ich schaute sie mir oft an. Als alter österreichischer Kommunist hatte er mir jegliche religiöse Erziehung vorenthalten. Zwar kriegte ich im Kindergarten und in der Schule durchaus mit, daß die Menschen nach dem Tod entweder im Himmel bei Gott seien oder in der Hölle beim Teufel, aber mir fehlte jeder Zusammenhang. Ich sah die Haufen von mit Lehm verklebten Leichen, sah einen Bulldozer, der sie über die Erde schiebt und ihnen dabei mit der Schaufel Schenkel aufschlitzt, Füße und Köpfe ausreißt – das waren doch die Guten, deren Verwandte in unserem Haus verkehrten. Und wie sollten sie plötzlich woanders sein, wenn sie doch hier lagen. Der allmächtige Gott hatte etwas von Hitler. Er war dieser riesige Daumen, der unerwartet am Himmel erscheinen und mich zerdrücken könnte.
Einmal erzählte mein Vater, daß er, Tage nach der Befreiung, unter den Toten einen Lebenden entdeckte. Der Bulldozer schob die stinkenden Körper in die Grube, mein Vater achtete
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