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Opernball

Opernball

Titel: Opernball Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Haslinger
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war so still, daß wir einander atmen hörten. Der Geringste kniff die Augen ein wenig zusammen. Dann sagte er:
    »Die Zeit der Bewährung ist vorbei. Wir sind reif geworden, für die Wahrheit zu kämpfen. In dieser Stunde ist es uns auferlegt, die Speerspitze einer neuen Volksgemeinschaft zu werden. Dankbar nehmen wir diese Herausforderung an. Wir sind stolz, daß die Geschichte uns auserwählt hat, der Welt das neue Jahrtausend zu bringen.«
    Der Geringste ging zum Altar und nahm aus dem Tresor ein gerolltes Blatt Büttenpapier, das in einem silbernen Serviettenring steckte. Er zog den Ring ab und rollte das Papier auseinander. Es war mit einem Text bedruckt. Er legte das Papier auf das Pult, wo es sich einrollte. Dann nahm er die Bibel zur Hand und schlug sie an der Stelle des seitlich heraushängenden Lesefadens auf. Er sagte: »Wir werden, wie es Daniel prophezeit hat, ein Reich errichten, das in Ewigkeit nicht zerstört wird. Dieses Reich wird keinem anderen Volk überlassen; es wird allen anderen Reichen die Auflösung und das Ende bereiten, selbst aber wird es in Ewigkeit bestehen!«
    Er rollte mit der flachen Hand das Büttenpapier wieder auseinander und legte die Bibel auf dessen linken Rand. Dann nahm er Hitlers Mein Kampf zur Hand und las daraus zwei ausgewählte Stellen: »Unterliegt aber ein Volk in seinem Kampf um die Rechte des Menschen, dann wurde es eben auf der Schicksalswaage zu leicht befunden für das Glück der Forterhaltung auf der irdischen Welt. Denn wer nicht bereit oder fähig ist, für sein Dasein zu streiten, dem hat die ewig gerechte Vorsehung schon das Ende bestimmt.«
    »Die Natur kennt keine politischen Grenzen. Sie setzt die Lebewesen zunächst auf diesen Erdball und sieht dem freien Spiel der Kräfte zu. Der Stärkste an Mut und Fleiß erhält dann als ihr liebstes Kind das Herrenrecht des Daseins zugesprochen.«
    Er legte das Buch auf den rechten Rand des Büttenpapiers. Wieder sah er uns lange an. Keiner sagte etwas. Ich fühlte eine Kraft in mir aufkeimen, wie ich sie nie zuvor verspürt hatte. Als mich der Blick des Geringsten traf, war mir, als wäre es der Blick Gottes. Er hätte in dieser Stunde alles von mir verlangen können, ich hätte es getan. Es war die Gewißheit einer großen Bestimmung, und der Geringste war nicht einfach ein Freund, sondern er war mein Lebensspender. Er allein war in der Lage, mir meine Bestimmung bewußt werden zu lassen. Den anderen muß es ähnlich ergangen sein, denn wir erhoben uns alle gleichzeitig, ohne daß es jemand verlangt hätte.
    Der Geringste legte seine Hände auf die Bücher und sprach als erster den Schwur:
    »Ich bin seit dieser Stunde Mitglied der Bewegung der Volkstreuen. Ich schwöre bei der Sonne, die auf mich herabscheint, bei der Erde, die mich ernährt, bei der weißen Menschenrasse, für deren Gedeihen zu kämpfen ich mich verpflichte, vor Gott, vor allen Propheten des tausendjährigen Reiches und vor allen, die dafür gekämpft haben, daß ich ab sofort mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft der Bewegung der Volkstreuen dienen und die mir auferlegten Opfer bringen werde.
    Ich verpflichte mich zu absolutem Schweigen über alle Belange dieser Bewegung und zum Gehorsam gegenüber ihren Beschlüssen. Meinen Kameraden werde ich bis zum Tode treu zur Seite stehen.
    Gott und die Kameraden der Bewegung der Volkstreuen sollen ihr Urteil über mich fällen, wenn ich diesen Eid breche oder ihm zuwiderhandle.«
    Nacheinander gingen wir zum Pult und sprachen den Eid. Danach umarmten und küßten wir einander. Der Geringste sagte: »Wir haben einen neuen Bund begründet. Nichts auf der Welt kann ihn zerstören.«
    Mir war, als wäre ich neu geboren. Ich war nicht mehr allein auf mich gestellt, sondern ich war gleichzeitig meine Kameraden, und meine Kameraden waren ich. Wenn ich jemals ganz ohne Vorbehalt glücklich war, dann war ich es an diesem Sonntagvormittag. Wir waren eins geworden, und der Geringste verkörperte die Sprache dieser Einheit.
    Er sagte: »Wir werden uns den Trinkspruch nicht mehr zurufen müssen, denn wir werden ihn als äußeres Erkennungszeichen an uns tragen.«
    Wieder ging er zum Altar und öffnete den Tresor. Er entnahm ihm ein Fläschchen mit polynesischer Tataufarbe, ein zusammengelegtes weißes Tuch und eine Nadel mit Holzgriff. Der Geringste faltete das Tuch auseinander und legte seine rechte Hand darauf. Dann bat er uns, die Nadel in die Farbe einzutauchen und ihm zwei kleine Achten auf das oberste

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