Opfer
auf, und bedeutete Gray, sich hinzusetzen.
»Sie kennen sich doch mit diesen Sonderlingen aus, oder, Paul?«, sagte er und reichte ihm ein Schulfoto in einem braunen Papprahmen über den Tisch.
Ein lächelnder Teenager mit Sommersprossen und blauen Augen, die unter einem gewellten, schwarzen Pony hervorschauten. Er trug einen schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt, ein weißes T-Shirt, einen schmalen, schwarzen Schlips und einen Button auf der Brust mit der Aufschrift: Echo and the Bunnymen .
»Darren Moorcock«, erklärte Rivett. »Wohnhaft 89 Northgate Street, Schüler der Ernemouth High. Ist Samstagabend nicht nach Hause gekommen, aber seine Eltern haben es erst am Morgen gemerkt. Er kommt oft erst nach Hause, wenn die beiden schon schlafen, aber sie vertrauen ihm.« Rivett zog die Augenbrauen hoch. »Aber als er dann gestern Abend immer noch nicht wieder aufgetaucht ist, bekamen sie es mit der Angst zu tun, dass er sich doch nicht nur als Casanova die Nacht um die Ohren geschlagen hat. Sie haben alle Orte abgeklappert, an denen er normalerweise herumhängt, ihn aber nicht gefunden. Haben alle seine Freunde angerufen, aber keiner hat ihn gesehen, seit er Samstagnachmittag bei seiner Freundin gewesen war. Deborah Carver heißt die Gute, wohnt in South Town und hat das ganze Wochenende krank im Bett gelegen, also wird er wohl nicht mit ihr rumgemacht haben.«
Rivett sah, wie sich in Grays Gesicht etwas regte, dann schluckte der Detective aber und starrte wieder das Foto an.
»Natürlich schauen wir, ob er in der Schule auftaucht«, setzte Rivett fort. »Aber bis dahin wollt’ ich mal fragen, ob Sie nicht ’nen heißen Tipp haben.«
Irgendwie kam ihm der Junge bekannt vor, dachte Gray. Aber nicht von seinen nächtlichen Streifengängen. Er erinnerte sich an die Party in dem Bunker mit dem alten Sofa, die er am ersten Mai aufgelöst hatte. Darren Moorcock sah aus, als würde er zu dieser Gruppe gehören, auch wenn er sich nicht genau an sein Gesicht erinnern konnte. Corrine Woodrow war auf jeden Fall dabei gewesen, und seltsamerweise hatte Rivett sich erst vor ein paar Wochen sehr interessiert an ihr gezeigt. An ihren Anfällen und den Gerüchten um Schwarze Magie. Über das Buch von Aleister Crowley wusste er anscheinend auch Bescheid – wahrscheinlich vom diensthabenden Sergeant Roy Mobbs, nahm Gray an.
Er sah wieder seinen Chef an. Rivett saß lächelnd auf seinem Sessel, und sein Blick war so durchdringend, dass Grays Magenschmerzen noch schlimmer wurden.
»Mir fällt da ein Versteck ein, wo ich die mal vertrieben hab«, sagte er. Der Drang, von Rivett wegzukommen, war stärker als seine Überzeugung, dass der Junge dort sein würde. »Ich geh mal gucken.«
*
Rivett wartete fünf Minuten und wählte dann die vertraute Nummer.
»Gut nach Hause gekommen?«, fragte er.
»Len.« Man hörte Erics Kater richtig. Rivett wusste, dass er sich nicht gerne früh wecken ließ, schon gar nicht nach all dem Whisky, den er am Abend zuvor sicher gekippt hatte. Aber Eric hatte alles verdient, was jetzt auf ihn zukam – denn was Rivett jetzt tun würde, würde Eric ihm lange und bis auf den letzten Heller zurückzahlen.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, fragte Eric, und Rivett hatte sein zerknautschtes Gesicht auf Ednas frischgewaschenen Kissen vor Augen.
»Höchste Zeit, dass du mir sagst, wie ihr das gestern alles geregelt habt«, forderte Rivett. »Meine Männer sind schon unterwegs. Wenn die Sache glatt laufen soll, können wir uns kein Hin und Her mehr leisten.«
Eric ächzte, und man hörte die Bettdecke rascheln. »Sammy ist wieder in London«, sagte er leise, damit Edna neben ihm nicht aufwachte. »Wir haben sie in eine Klinik gesteckt, wo sie sich um sie kümmern. Es hat auch Vorteile, dass Malcolm ein kaputter Alkoholiker ist. Er kennt sich mit solchen Einrichtungen bestens aus.«
Rivett ließ einen Bleistift zwischen seinen Fingern kreisen. »Gut. Jetzt, wo das geregelt ist, kannst du dich auf den Weg ins Edith Cavell Hospital machen.« Dort lag Amanda seit ihrer Fehlgeburt. »Es ist jetzt wichtig zu zeigen, dass du dich um deine ganze Familie kümmerst. Für Sammy war’s sicher nicht leicht« – der Bleistift zerbrach ihm in den Fingern – »aber für Mandy ist das Ganze sicher noch viel schlimmer, meinst du nicht?«
*
Gray parkte am Iron Duke. Er trug seine Jacke über der Schulter, als er die Treppe hinunterstieg und sich auf den Weg durch die North Denes machte. Vor ihm schimmerte der
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