Opfer
wirken konnte.
»Jetzt gehen wir mal rein«, sagte er und schob die beiden zurück durch die Haustür.
Sean sah sich um. Er hatte keine Antwort auf die Frage nach Rivett bekommen, aber hier war er offensichtlich nicht. Er drehte sich nach seinem Auto um. Noj war auch nicht mehr da, und die Tür stand weit offen.
»Ich komm gleich nach«, sagte er zu Gray, und seine Hand schloss sich über dem DNA-Set mit Nojs Abstrich in seiner Jackentasche.
Auf dem Beifahrersitz fand er eine zweite kleine Puppe,ähnlich der aus dem Bunker. Ein Abbild Rivetts mit den Füßen in der Luft und einer Nadel im Herz.
*
Noj rannte im Regen durch die Nebenstraßen, das Buch sicher in der Tasche, und rang mit den Tränen.
In der Sekunde, als sie in der Einfahrt gehalten hatten, hatte sie es vor ihrem inneren Auge auf dem Hochflorteppich im Schlafzimmer gesehen. Als die anderen – darunter Gray, der Bulle aus der Vergangenheit – Smollet und seine schlafende Schönheit bedrängt hatten, hatte sie die Chance genutzt und war schnell ins Haus gehuscht und die Treppe hinauf, als hätte das Buch selbst sie geleitet. Niemand hatte sie herauskommen und gehen sehen. Da war sie sich so sicher wie bei der Vision in der Kristallkugel, die sie zu Samantha Lamb geführt hatte. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass sie es endlich von dieser Macht zurück hatte, die stärker war, als sie es als verblendeter Teenager hatte wahrhaben wollen. Corrine hatte es aber immer gewusst.
Sie weinte um Corrine, die sie in dieser wichtigen Nacht allein gelassen hatte, weil sie so wissbegierig, so machthungrig zum Meister gegangen war, dem sie jetzt endlich das Buch zurückbringen würde. Dem Meister, der sie zu dem gemacht hatte, was sie war – doch um welchen Preis? Wenn sie Corrine nur beigestanden hätte, wäre das alles nie passiert …
Doch jetzt schloss sich der Kreis, und sie spürte die Wandlung wie damals auf dem Friedhof, als sie Samantha mit dem Fluch belegt hatte. Die Straßenlaternen verschwammen hinter ihren Tränen. Diese Lektion war die schwerste von allen.
Als sie bei Mr Farrer vor der Tür angekommen war, hielt sie sich die Hände vors Gesicht. Sie spürte die Stoppeln unter der Haut.
*
Francesca kniete sich neben ihn, aber Rivett sah sie nicht. Er war an der Hafenmauer und sah zur Nelson-Statue hinauf. Bloß stand da nicht der Admiral. Sean Ward starrte mit seinen dunkelbraunen Augen auf ihn herab und grinste.
» Das Recht hat gesiegt! «, rief er. » Wir sehen uns auf der anderen Seite! «
Dann fiel Rivett nach hinten und ließ sich vom Wasser verschlingen.
40
NIEDERSCHLAG
Juni 2004
Janice Mathers folgte Dr. Radcliffe den langen, graugrünen Flur entlang, der von Neonröhren beleuchtet wurde und stark nach Desinfektionsmittel roch. Ihre Schritte hallten von den kahlen Wänden und fensterlosen Türen wider.
Hinter der Sicherheitsschleuse, wo die Kunstwerke der Insassen ausgestellt waren, wurde es bunter. Hinter den getönten Sicherheitsglasscheiben zu den Kursräumen waren Stimmen zu hören und Umrisse zu sehen, die sich bewegten. Dr. Radcliffe blieb erst stehen, als sie an den Türen der Schlafräume waren, die zu den vorgeschriebenen Zeiten offenstehen durften. Bis auf die letzte Tür links.
Der Arzt drehte sich zur Anwältin um.
Seine Augen hatten die flintfarbene Feindseligkeit verloren, an die sie sich im Laufe ihrer Besuche gewöhnt hatte. Jetzt waren sie weicher und strahlten freundlich, was sich auch in seiner Stimme widerspiegelte. »Ich muss mich wohl bei Ihnen entschuldigen, Miss Mathers.«
Die Anwältin schüttelte den Kopf. »Sie haben immer das Beste für sie getan, nach Ihrem Ermessen«, erwiderte sie. »So freundlich war sonst kaum jemand zu ihr. Sie haben dafür gesorgt, dass sie sicher war.« Sie lächelte traurig. »Hier drinnen.«
Dr. Radcliffe nickte zackig und steckte den Schlüssel ins Schloss. »Sie hat darauf bestanden«, erklärte er, »nicht ich.« Er drehte ihn sachte um.
Corrine sah nicht auf. Sie saß auf dem Bett vor einem Aquarell, das vor Kurzem von der Wand genommen worden war.Das Motiv hatte sie immer und immer wieder gemalt, seit sie sich in der Obhut von Dr. Radcliffe befand. Es glich demjenigen, das er vor fünfzehn Monaten Sean Ward gezeigt hatte und das Mathers’ Leute vor dem Berufungsgericht eingereicht hatten. Dort hatten sie die Geschworenen überzeugen können, dass Corrine dieses Bild nicht immer wieder kopiert hatte, weil sie so zu dem unschuldigen Kind werden wollte, das
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