Opfer
denen?«
»Dass Sie ein alter Freund aus London sind. Sollen die es verstehen, wie sie wollen. Dann macht sich der Tratsch hoffentlich selbständig, und Sie sind für alle jemand, der Sie nicht sind.« Sie zog die Augenbrauen hoch und sah sich um.
»Ah! Hier kommt unsere Vorspeise.«
Sean beobachtete sie, während Keri die Schälchen mit Dip, Oliven und Teighäppchen und das Pitabrot auf den Tisch stellte, den beiden Wein einschenkte und lächelnd wieder ging. Sean fiel auf, dass sie sich den einzigen Platz mit guter Sicht auf den ganzen Raum ausgesucht hatte. Die Wände hatten hier wohl wirklich Augen und Ohren.
»Wie lange sind Sie eigentlich schon hier?«, fragte er und griff nach dem Brot.
»Ich bin jetzt gut drei Jahre beim Mercury «, erklärte sie und löffelte Hummus auf einen Teller. »Als ich hier angefangen habe, waren wir nur zu dritt: ich, Pat und Paul Bowman, der Anzeigen-Heini, der so aussieht wie Peter Stringfellow. Der alte Redakteur hatte vorher jahrelang alles andere selbst gemacht, bis er eines Tages an seinem Schreibtisch einen Herzinfarkt erlitt und starb. Ich hab mich dumm und dämlich gearbeitet, um den Laden auf Vordermann zu bringen. Aber das war schon eine tolle Erfahrung«, andächtig trank sie einen Schluck, »wir haben hier wirklich was geschafft.«
»Und vorher?«, fragte Sean.
»Davor war ich fünf Jahre bei einer überregionalen Zeitung«, sagte sie. »Erst Reporterin, dann Redakteurin. Na ja, mehr ist dann so schnell nicht drin.«
»Aber trotzdem war es bestimmt ein Kulturschock, als Sie hergekommen sind«, sagte Sean, der sich fragte, was sie in so ein trostloses Provinznest verschlagen hatte.
»Nicht unbedingt.« Sie lächelte.
Sean biss in ein dreieckiges Teigtäschchen und schmeckte warmen Feta und Spinat. Bald waren die Vorspeisenteller leer.
»Und Sie? Ich hab mich natürlich eingelesen, warum Sie hier sind«, erklärte Francesca. »Klar wollen Sie wissen, wie es hier so ist. Aber« – plötzlich sah sie wieder auf – »vielleicht bestellen wir erst mal den Hauptgang, ja?«
»Ich hab mir schon was ausgesucht«, sagte Sean, als Keri wieder geräuschlos neben ihm auftauchte. »Einen großen Teller Moussaka, bitte.«
»Für mich auch, bitte«, sagte Francesca. »Sie werden nicht enttäuscht sein.«
Als Keri gegangen war, lehnte sie sich vor, die Finger um den Stiel ihres Weinglases geschlungen. »Was haben Sie denn an neuen Erkenntnissen?«, fragte sie. »Etwas aus der Gerichtsmedizin? DNA? Bestimmt keine neuen Zeugenaussagen, oder?«
»Stimmt.« Er nickte. »Aber warum sind Sie sich da so sicher?«
»Damals sind zu viele Leben ruiniert worden«, erklärte sie. »Wenn so eine kleine Stadt mit so einer schrecklichen Sache von sich reden macht, ist die Kollektivschuld unerträglich. Die haben vor zwanzig Jahren ihr Opfer gebracht und erwarten, dass sie dafür in Ruhe gelassen werden. Hier finden Sie nicht so schnell jemanden, der den ganzen alten Kram wieder aufrollen will.«
»Nicht mal die Redakteurin der Lokalzeitung?«
Die Frage blieb offen, während Keri ihre Teller mit Moussaka brachte, Wein nachschenkte und wieder ging. Sean probierte sein Essen. Francesca hatte recht gehabt: Er war nicht enttäuscht. Sie aßen eine Weile wortlos, und Sean genoss jeden Bissen.
»Und, taugen Ihre neuen Beweise etwas?«, fragte Francesca schließlich. »Verändern sie die Geschichte wirklich grundlegend? Sind sie den Stich ins Wespennest wert und alles, was der nach sich zieht?«
Sean wehrte sich gegen das Bild von Corrine Woodrows Augen, das er unwillkürlich vor sich hatte, gegen die plötzliche Müdigkeit, die ihn dabei ergriff und die Schmerzen in seinen Beinen wieder aufflackern ließ, die beim Essen abgeklungen waren. Der Schatten eines jungen Mannes, der zwischen den Bäumen hervortritt …
»Sie sind es wert. Die Beweislage spricht für sich«, erwiderte er.
Sie starrten einander über den Tisch hinweg an. Dannwandte Francesca den Blick ab und schaute aus dem Fenster in die Nacht. » Ta en oiko me en demo «, murmelte sie.
»Bitte?«, fragte Sean.
Sie sah ihn wieder an. »Dann brauchen Sie wohl meine Hilfe, was?«
8
BECAUSE THE NIGHT
September 1983
»Wenn du ’nen Wunsch frei hättest. Ganz egal, was. Was würdest du dir dann wünschen?«, fragte Samantha.
Corrine lag am flachen Abhang einer Düne und öffnete die Augen nur einen Spalt, weil die Sonne sie blendete. Nach all den Fahrgeschäften und den Unmengen an Eis, die sie hinterher verdrückt hatte,
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