Opfer
entlang bis nach vorne, wo die Musik des Meeres alles andere übertönte und die Wellen über die Steine rauschten.
Corrine starrte hinaus auf die fernen Lichter der Bohrinseln. Mittlerweile sprenkelten sie den gesamten Horizont. Sie hatte zwölf gezählt, als ihr der wohlbekannte Moschusgeruch seines billigen Aftershaves in die Nase stieg. Es war genau, wie sie es erwartet hatte, was bedeutete, dass sie bald das Geld für ihre Frisur zusammenhaben würde.
Doch was dann kam, hatte sie nicht geplant.
Sie kniete sich in den kalten, weichen Sand unter den dunklen Holzstreben des Piers. Der Mann grunzte, machte sich am Hosenstall zu schaffen und schlurfte auf sie zu.
»Entschuldigung, Sir«, hörte sie eine Stimme hinter sich. »Könnten Sie mir mal erklären, was Sie da machen?«
Corrine hatte die Situation vor dem Freier erfasst. Aber noch bevor sie aufspringen und weglaufen konnte, wurde sie von einer Taschenlampe geblendet und an der Schulter gepackt.
»Sie auch, Miss«, sagte der Polizist.
13
UNBEKANNTE
März 2003
Sean fuhr an der Promenade entlang, wo sich wie ein Schwarm sturmerprobter grauer Seevögel auf allen Bänken Rentner niedergelassen hatten und der Kälte des Märzmorgens trotzten. Zu seiner Linken jagten weiße Schaumkronen über das düsterblaue Meer und ein einsamer Hund schnupperte einer Spur nach. Zu seiner Rechten blinkte und schrillte eine Spielhalle nach der anderen um Aufmerksamkeit. Ein herrschaftlich-viktorianisches Hotel hob sich am Ende der Golden Mile puritanisch weiß von der grellen Geschmacklosigkeit seiner Nachbarschaft ab. Wie ein Bisamapfel schützte ein adretter Vorgarten das Haus vor der Pestilenz des Touristenkitsches. Sean wurde langsamer. Sein Ziel befand sich an der nächsten Ecke, ein weiteres beeindruckendes Stück Architektur des neunzehnten Jahrhunderts, eine Villa aus grauem Flintstein, mit cremefarbenem Stuck und Säulenvorbau. Len Rivetts »Büro«: die Freimaurerloge.
Als er auf den Parkplatz fuhr, sah er vor der Tür einen Mann mit Lammfellmantel und schwarzem Trilby mit Feder stehen, der eine schlanke Zigarre rauchte. Sofort erkannte er das Gesicht von Francescas Zeitungsausschnitten. Es hatte sich kaum verändert.
Als Sean ausstieg, lächelte Rivett und hob die Hand. Seine Augen blieben unter der Hutkrempe verborgen. »Mr Ward«, sagte er, warf den Zigarrenstummel in den Kies und trat ihn mit einem grauen Slipper aus. »Willkommen im sonnigen Ernemouth. Len Rivett, stehe zu Diensten.«
Sean ergriff Rivetts ausgestreckte Hand, große, grobe Finger voller Goldringe. Er fürchtete, der DCI würde seine Nerven mit einem Knochenbrecher-Händedruck prüfen, aber er verhielt sich so freundlich, wie es sein Lächeln versprach.
»Guten Tag«, erwiderte Sean. »Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.
»Gerne. Wie war die Fahrt? Sind Sie in dem Hotel untergekommen, das ich Ihnen empfohlen habe?«
»Ja, danke. Sehr schön dort.«
Rivett nickte. »Auf jeden Fall besser als die hier vorne«, sagte Rivett und zeigte auf die bunten Bauwerke, an denen Sean gerade vorbeigefahren war. »Die sehen von außen alle in Ordnung aus«, erklärte er mit einem Zwinkern, »aber drinnen wimmelt es vor Kakerlaken. Und jetzt«, er legte Sean die Hand auf die Schulter und führte ihn durch die Tür, »gebe ich Ihnen eine kleine Führung.«
*
»Ich hab schon viel von Ihnen gehört«, sagte Rivett. »Sie sind ein mutiger Mann.«
Sean hob den Blick von der Speisekarte, die aus derselben vergangenen Zeit stammte wie sein Gegenüber, und sah ihm in die dunkelbraunen Augen. Rivett hatte ihm den großen Saal mit den Kronleuchtern, dem Schachbrettboden und den Wappen gezeigt, wo Prince Albert gespeist hatte, als er vor hundert Jahren Ehren-Colonel der Norfolk Artillery Militia gewesen war. Jetzt saßen sie in der hinteren Bar, einem langgezogenen, eleganten Raum mit bordeauxroten Ledersesseln.
»Nein.« Sean schüttelte den Kopf. »Ich hatte meine Ausbildung vergessen, mich auf mein Bauchgefühl verlassen und die Risiken nicht richtig abgeschätzt. Ich hatte Glück.«
Rivett verzog das Gesicht. »Wo wurde die kleine Ratte eingesperrt?«
»Durham«, erwiderte Sean. »So weit von mir weg wie möglich.«
»Ja«, Rivett nickte. »Aber nicht weit genug. So geht’s mir auch mit Corrine Woodrow.«
Silberstreifen liefen durch sein dichtes, dunkles Haar. Dünne Äderchen zeichneten Muster auf seiner Nase und seinen Wangen und ließen erahnen, wie der pensionierte DCI seine Freizeit
Weitere Kostenlose Bücher