Opfer
schon, Corrine, wir haben dich echt vermisst.«
Corrine spürte, wie sie rot wurde. Seit sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war und wieder zur Schule ging, lief endlich mal alles ganz gut. Sie hatten sie in eine kleine Klasse gesteckt, in der ein netter Lehrer alle Stunden gab und einem zuhörte, wenn man sich etwas von der Seele reden musste. Jetzt, wo die Bullen ihre Mutter im Blick hatten und Sheila angedroht hatte, ihr Corrine wegzunehmen, ließ die Alte sie in Ruhe, schlug sie nicht mehr und ließ sie auch die zehn Pfund behalten, die sie jedes Wochenende beim Friseur verdiente. Sie musste auch nicht mehr losgehen und dazuverdienen. Also war sie es ruhig angegangen, hatte versucht, die Ereignisse der letzten Monate zu vergessen, und sich nicht mehr mit ihren alten Klassenkameraden getroffen. Sheila hatte gesagt, so sei es am besten – dann würde sie auch keiner so leicht in irgendetwas hineinziehen.
Aber Corrine wusste, was in Wirklichkeit für ihr jüngstes Glück verantwortlich war. Nojs Zauber schützte sie. Sie wiederholten die Rituale jeden Sonntagabend. Das durfte sie aber niemandem sagen. Nicht mal Debbie.
»Wo wollt ihr denn jetzt hin?«, fragte Corrine.
»Wir treffen uns mit Jules im Dodger’s«, erklärte Darren. »Wie wär’s?«
»Im Dodger’s?« Corrine zögerte. Debbie und Darren waren so nett, also warum nicht? Hauptsache, sie hielt sich von Sam fern … »Nicht im Swing’s?«
Debbie schüttelte den Kopf und lächelte, als könnte sie ihre Gedanken lesen. »Nicht im Swing’s.«
»Alles klar«, beschloss Corrine. Sie grinste und schloss sich den beiden an. Sie schlängelten sich auf den vollen Bürgersteigen zwischen Leuten mit prallen Einkaufstüten und auf dem Weg zum Feierabendbier hindurch. Über ihren Köpfen funkelten bunte Lichterketten in Form von Sternschnuppen und Stechpalmenblättern vor dem dunklen Winterhimmel. Paul Young sang aus jedem Laden über die Love of the Common People, und von den Marktbuden zog der Geruch von heißenPommes mit Essig herüber. Corrine bekam plötzlich richtig gute Laune, weil sie dieses schlimme alte Jahr mit ihren Freunden ausklingen lassen konnte.
»Und«, wandte sie sich an Debbie, als sie auf die Pubtür zugingen, »mit Alex und so trefft ihr euch dann später noch?«
Debbie verzog das Gesicht. »Nein. Ich hab dir doch gesagt, ich geh nicht mehr ins Swing’s …«
»Da ist sie doch«, sagten sie zusammen.
*
Alex schaute zur Uhr hinauf. Viertel nach sieben.
»Nehmt ihr auch noch eins?« Shaun MacDonald schwenkte den Rest seines Biers im Glas und schaute in die Runde.
»Bin dabei«, sagte Bugs, stellte sein leeres Glas ab und rülpste.
»Al?«, fragte Shaun.
Alex schaute hinunter auf sein Pint. Er hatte es innerhalb von fünf Minuten fast geleert, wusste aber immer noch nicht, was er tun sollte. Er hatte eine Karte zu einem Konzert in der Tasche, die er sich schon beim Verkaufsstart im September gesichert hatte. Bully und Kris standen jetzt wohl am Bahnhof und warteten auf die Bahn um halb acht. Und auf ihn.
Aber er hatte nur ein schwarzhaariges Mädchen im Kopf, das ihn den beiden im Oktober mit einem Kuss und mehr gestohlen hatte. Er sah nur ihr Gesicht vor sich, ein Gesicht, das er einfach nicht auf Papier bannen konnte, so sehr er es auch versuchte. Das Mädchen entzog sich seinen Stiften und Farben. Aber sie hatte an ihm ihre Spuren hinterlassen.
Bevor sie in die Bar gekommen war, hatte Alex nur eine Erklärung dafür gehabt, dass Frauen ihn nicht ernsthaft erregten. Dieses Gefühl war noch stärker geworden, als er Debbies Freund Julian kennengelernt hatte und sich sicher gewesen war, in seinen dunklen Augen seinesgleichen zu erkennen.
Aber Samantha hatte das und alles andere auf den Kopf gestellt. An ihrem ersten gemeinsamen Abend hatte sie immer wieder angemerkt, dass sie in London unter Künstlern aufgewachsen war, die ihr Vater noch aus seiner Gegenkultur-Zeit kannte. Besiegelt hatte sie es kurz vor seiner Haustür an der alten Tollgate-Mauer, als sie Lippen und Zähne über sein Gesicht spielen ließ, ihm den Rücken zerkratzte und ihn heiß und schnell in sich schob. Er reagierte mit purem Instinkt, einer ursprünglichen Verbindung von Schock und Lust, die alles andere verschwinden ließ, auch Debbies aschfahles Gesicht, als sie ihn mit dem Mädchen zusammen sah, das sie so hasste.
Seitdem hatte er kaum klar denken können. Diese Kindfrau war in vielerlei Hinsicht so erwachsen, so raffiniert, ihm in
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