Opfer
Wellen auf den Kieseln am Ufer.
*
Während er in Marcs Kühlbox nach einer einigermaßen kalten Flasche kramte, beobachtete Julian Alex und Bully, die im Bunker tanzten und sich auf das alte Sofa fallen ließen, das sie dort für die Party aufgestellt hatten. Corrine saß mit Bugs am anderen Ende und lachte sich kaputt. Julian sah lächelnd zu und versuchte zu vergessen, wer fehlte.
Samantha hatte ihm Freitag am Ende des Flurs aufgelauert und ihm ins Ohr gezischt: »Das wirst du mir büßen, du hinterhältiger, kleiner Freak.«
Julian hatte ihr den Mittelfinger gezeigt und gesagt, sie solle sich verpissen. Aber ihr Blick hatte ihm richtig Angst eingejagt. Und als er am Ende des Tages an seinen Spind ging, hatte jemand mit schwarzem Edding SCHWUCHTEL draufgeschrieben.
Aus dem Bunker sah Alex Julian ins Leere starren.
»Komm gleich wieder«, entschuldigte er sich bei Bully, stand auf, ging nach draußen in die Sonne zu Julian und hoffte, er würde die richtigen Worte finden, um wieder auszubügeln, dass er sich am Marktplatz zum Deppen gemacht hatte. »Julian«, sagte er und setzte sich neben ihn. »Ich wollt’ mich bei dir entschuldigen. Ich hab da letztens Blödsinn geredet, ich hatte das gar nicht so gemeint …«
Julian grinste. »Mach dir keine Gedanken«, fiel er ihm insWort und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, was du sagen wolltest. Glaub ich wenigstens.«
Wieder leuchtete es so verständnisvoll in seinen Augen. Alex gab ihm die Hand. »Ich steh eigentlich selber auf Soft Cell.«
*
Corrine saß im Bunker und starrte das Tattoo auf Bullys Arm an: der schwarze Schattenriss eines Mannes im Profil, seine Augen als farblose Schlitze ausgespart. Er sah aus wie ein Racheengel aus Rauch und Ruß. Daneben stand senkrecht in Schablonenschrift: VENGEANCE
Corrine wurde ganz seltsam zumute, als sie es anschaute. »Das ist total genial«, sagte sie, und ihre Hand näherte sich, ohne es zu berühren.
»Kannst es ruhig anfassen. Ist schon vor Wochen verheilt«, sagte Bully.
Vorsichtig legte sie die Fingerspitzen auf die tätowierte Haut. Das seltsame Gefühl wurde stärker. Als ob sich ein lange vergessener Traum zurück in ihr Bewusstsein drängen wollte. »Wo ist der her?«, flüsterte sie.
»Kann ich dir sagen«, erwiderte Bully. »Kris!«, rief er. »Mach mal Army an!«
»Alles klar.« Kris nickte. Er suchte eine Kassette aus dem Haufen neben dem Ghettoblaster heraus, nahm Julians Mixtape aus dem Gerät, legte die neue ein und drückte Play.
Ein nervöses Notenmuster erschallte, flexibel wie ein Gummiband, aber tödlich präzise. Die Basslinie forderte das erwartungsvolle Gefühl heraus, das in Corrine angeschwollen war, und riss sie auf die Beine.
Die Noten wurden lauter, drängender, die Drums kamen dazu und beschleunigten den Rhythmus. Bully fasste Corrine an den Händen und tanzte mit ihr. Corrine hatte noch nie mit einem Jungen getanzt, aber die Musik sagte ihr, was zu tun war:Sie stampfte zum durchgängigen Beat und ihre wilden Füße und Bullys Boxstiefel wirbelten den Sand auf dem Betonboden des Bunkers auf.
Ein Mann fing an zu singen, komprimierte Wut in jeder Silbe. Seine Stimme hüpfte über die Oberfläche des Songs wie ein Stein, den man auf dem Meer springen lässt. Corrine hörte nicht richtig, was er sagte, aber als die Strophe zum Refrain hin anschwoll, wusste sie ganz genau, was er wollte – er sprach etwas aus, wonach sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hatte. Freiheit …
» I believe in justice. «
Bully riss die Arme hoch und sang mit.
» I believe in vengeance. «
Er ballte die Fäuste und beugte sich mit wildem Grinsen zu ihr vor.
» I believe in getting the bastard, getting the bastard, NOW ! «
Ja , dachte Corrine, genau .
Rache.
Gesichter blitzten vor ihrem inneren Auge auf, während sie weiterlachte und -tanzte. Die Gesichter der dreckigen alten Männer unter dem Pier, eine traurige Prozession kranker Seelen, die mit ihrer Scham, ihrem Selbstekel nur klarkamen, wenn sie sie an andere weitergaben, denen sie antaten, was ihnen selbst angetan worden war. Psycho, Scum und Whiz, die mit dumpfen, tödlichen Stimmen lachten. Rat und sein Messer, von dem sie immer und immer wieder geträumt hatte, es gegen ihn zu richten, es in ihn hineinzurammen, bis alles rot wurde und das Böse in einer wunderbaren, tiefen Säuberung aus seinen Eingeweiden sprudelte. Damit er spürte, was er ihr angetan hatte, damit er bis ans Ende, den ungläubigen Schrecken in den Augen, zusehen musste,
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