Opfere dich
ihr Peiniger könnte mehr Wachs auf ihr Auge tröpfeln, doch das geschah nicht. Sie musste sich anstrengen, um ihr Auge wieder zu öffnen, denn das Wachs verklebte ihr Lid. Ängstlich blinzelte sie. Die Kerze stand neben ihrem Hals auf der Liege. Wie eine stumme Drohung.
„Er hat es echt drauf.“ Patterson atmete hörbar aus. Offensichtlich hatte er die letzten Sekunden die Luft angehalten. „Der Kerl wirkt extrem selbstsicher auf mich. Er hat seine Methoden seit anderthalb Jahren perfektioniert und weiß genau, was er tut, wie er seinen Opfern Angst einjagen kann.“
„Er hat sich schnell weiterentwickelt“, pflichtete Lombard ihm bei. „Zu schnell. Das ist schlecht für uns. Normalerweise liegt zwischen den ersten Morden eines Serienkillers mindestens ein Jahr, aber unser Mann ist gierig. Er kriegt nicht genug. Den Grund dafür kennen wir noch nicht, aber das ist nur eine Frage der Zeit.“
Die Hände und Arme des Straftäters tauchten wieder auf der Leinwand auf. Er stützte sich rechts und links auf der Liege ab.
„Er liegt auf ihr, oder?“ Storms Stimme klang brüchig.
Niemand antwortete.
Das brauchten sie auch nicht, denn nun schob sich seine Schulter immer wieder kurz ins Bild. Der Täter drang in Megan ein. Aber er stieß nicht heftig zu, sondern er fickte sie sanft. Er zog sich langsam zurück und schob sich genauso langsam wieder in sie hinein. Behutsame Grausamkeit.
Man könnte meinen, man beobachtet ein Liebespaar, dachte Storm überrascht, wäre da nicht Megans entsetztes Gesicht.
Die Miene der jungen Frau veränderte sich. Als würde etwas in ihr vorgehen. Eine Art Wandlung. Ihr Blick war entrückt. Teilnahmslos starrte sie an die Decke, obwohl sie gerade vergewaltigt wurde. Es schien beinahe so, als hätte sie sich damit abgefunden. Vielleicht hatte sie auch resigniert. Oder sie war froh, dass die Folter vorüber war. Zumindest für den Augenblick. So bedächtig, wie ihr Peiniger sie vergewaltigte, tat er ihr zumindest nicht weh.
Storm wurde sich mit einem Mal bewusst, dass das behutsame Eindringen des Täters sie mehr ängstigte, als wenn er brutal in Megan hineingestoßen hätte. Warum, fragte sie sich. Warum waren ihre Empfindungen so widersprüchlich? Weil es ihr Feindbild zerstörte? Weil es zeigte, dass er überheblich und verrückt war? Oder weil es sie daran erinnerte, dass er keine reißende Bestie, sondern ein Mensch war? Jemand, mit dem man vermutlich den ganzen Abend bei einem Glas Wein zusammensitzen und stundenlang reden konnte. Denn reden konnte er. Er war gebildet, intelligent. Und er lebte tagsüber ein normales Leben.
Es war nervenzerreißend still im Besprechungsraum. Niemand wagte auch nur, die Sitzhaltung zu wechseln. Nur das leise Keuchen des Wachsmörders war zu hören. Es klang weit entfernt. Es gehörte der Vergangenheit an, denn die Aufzeichnung war mindestens zwölf Stunden alt.
Der Täter hörte auf, sich in sein Opfer hineinzuschieben. Sekundenlang tat sich nichts. Als er sprach, zuckten alle Cops zusammen. „Du leidest nicht genug für mich, Megan“, sagte er rügend, aber da war ein lustvolles Timbre in seiner Stimme, die Storm erschaudern ließ. In seiner Hand tauchte ein Skalpell auf. Das Licht der Kerze spiegelte sich in der kleinen Klinge. Der Mann schwenkte das Skalpell hin und her, so dass die Klinge immer wieder kurz aufblitzte.
Das Letzte, was alle sahen, waren Megans panisch aufgerissene Augen. Dann wurde die Stativleinwand schwarz.
Zwei Minuten konnten manchmal verdammt lang sein, stellte Storm fest.
„Das war’s“, sagte Benhurst erleichtert, weil es vorbei war, trat neben die letzte Stuhlreihe und reckte sich.
Commissioner Lombard zeigte auf die Leinwand. „Noch nicht ganz.“
Die Aufzeichnung lief weiterhin. Nach einigen Sekunden tauchte eine weiße Schrift auf. In Großbildformat war zu lesen:
„ÜBERLEG. ES. DIR. GUT.“
Nur ein Satz. Vier Wörter. Weiß auf schwarz.
Alle Anwesenden drehten sich zu Storm um. Zig Augenpaare starrten sie an. Sie rutschte tiefer in ihren Sitz hinein, denn auf einmal fühlte sie sich schuldig. Als hätte sie Megan Cropps das alles angetan.
5.
Storm hatte ihr Handy zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt. Mit einer Hand lenkte sie ihren Wagen in Richtung Lake Michigan, mit der anderen kurbelte sie das Seitenfenster herunter und schnippte ihre Kippe durch den Spalt nach draußen.
„Ich nehme mir das nicht zu Herzen“, log sie und schloss das Fenster wieder, denn sie trug nur ein Sommerkleid,
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