Opfergrube: Kriminalroman (Darmstadt-Krimis) (German Edition)
schnell gemerkt, dass sie nicht allein spazieren gehen wollte. Die ganze Zeit die Stimmchen, die jenes besser und anderes viel besser wussten und die zudem noch die vorgestrige Szene mit Rainer kommentierten. Nein, sie selbst war absolut nicht die Person, die sie jetzt ertragen wollte oder konnte. Es gab zwei Alternativen: wieder eine Flasche Wein. Oder Arbeit.
Nun saß sie also hinter ihrem Schreibtisch. Nicht im Präsidium, sondern in ihrem Arbeitszimmer. Sie hatte es sich vor Kurzem eingerichtet, mit Schreibtisch, neuem Laptop, Drucker – Schwarz-Weiß-Laser, nie wieder farbige Tinte! – und Tizio-LED-Schreibtischleuchte. Man gönnte sich ja sonst nichts.
Statt Kaffee oder Wein stand ein Glas Apfelschorle neben ihr. Draußen schien die Sonne, und die Familien machten ihre Sonntagnachmittagsspaziergänge. Horndeich hatte ihr erzählt, dass bei ihm ein Besuch bei den Schwiegereltern anstand. Sie beneidete ihn um sein Familienglück, das musste sie sich eingestehen. Jetzt mit Rainer und vielleicht Doro irgendwohin zu fahren oder gemeinsam Ben und seine Familie zu besuchen – solche Dinge waren ihr offensichtlich nicht vergönnt.
Du hast’s vergeigt. Haken hinter, arbeiten. Die Stimme des Pragmatismus. Nicht die kräftigste im Chor, aber jetzt mit Abstand die am meisten willkommene.
Margot blätterte in der Akte von Wölzer. Den Bericht der Gerichtsmedizin hatte sie schon gelesen. Natürlicher Tod, Kammerflimmern, Herzversagen. Danach waren ihm die Daumen zerquetscht worden, offenbar mit einer Schraubzwinge.
Nun las sie nochmals den Bericht über den Fundort der Leiche. Auch in dem Fall schien es so, dass der Leichnam aus einem Auto heraus auf den Boden gelegt worden war. Aber er war auf den Rücken gerollt worden, und danach hatte man seine Arme vom Körper abgewinkelt, während die Beine zusammengelegt worden waren – wie bei einer blasphemischen Jesus-Interpretation.
Darauf konnte sich Margot keinen Reim machen. Sie blätterte zurück zum gerichtsmedizinischen Befund. Alle toxikologischen Tests deuteten darauf hin, dass Wölzer zwar stark alkoholisiert gewesen sein musste, aber ansonsten waren kein Gift oder irgendwelche Drogen gefunden worden.
Wölzer war in der Nacht, in der er gestorben war, noch nach Marburg gefahren, das hatte die Auswertung der Handydaten ergeben. Wo er dann gewesen war, wo er zwei Tage tot herumgelegen hatte – das alles war nicht geklärt.
In Darmstadt war er zum letzten Mal lebend gesehen worden. Margot erinnerte sich wieder: Taschke hatte ihr noch zugerufen, dass Wölzer auf einem Vortrag gewesen war und vier Zeugen gesehen hätten, wie er in den Wagen gestiegen war. Wölzer hatte allen erzählt, er werde jetzt nach Hause fahren.
Margot blätterte zu Taschkes Bericht: Das Thema des Vortrags klang für Margot durchaus interessant: Darmstadts Geschichte aus Sicht der Frauen. Dann kam der noch interessantere Teil: Der Vortrag war mitnichten öffentlich gewesen, sondern Teil des Semesterprogramms einer Darmstädter Studentenverbindung. Ludovica nannte sich die Burschenschaft, die ihr Haus in der Wolfskehlstraße hatte. Margot kannte die riesige Villa, die einmal dem Berliner Bankier Felix Bonte gehört hatte. Wenn man den Legenden glauben durfte, hatte Bonte das mit Giebeln und Türmchen verzierte Villenschlösschen sogar selbst entworfen.
In Darmstadt gab es zahlreiche Studentenverbindungen. Margot wusste nicht viel darüber, nur dass die Studenten in dem Haus der Verbindung ein billiges Zimmer mieten konnten und später, wenn sie mit dem Studium fertig waren, ihrerseits die nachfolgende Studentengeneration der Verbindung finanziell unterstützten. Sie wusste auch, dass Burschenschaften eher rechts ausgerichtet waren und sich ihre Mitglieder mit Degen duellierten. Wenn Wölzer also dorthin gegangen war, dann musste er wohl Mitglied dieser Burschenschaft gewesen sein.
Margot googelte die Telefonnummer der Burschenschaft Ludovica. War einen Versuch wert. Vielleicht war dies das verbindende Glied zwischen den toten ehemaligen Studenten.
Sie wählte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis am anderen Ende jemand dranging.
»Burschenschaft Ludovica, Sie sprechen mit Andreas Ruprecht, guten Tag.«
»Guten Tag, hier spricht Hauptkommissarin Margot Hesgart von der Kripo Darmstadt. Ich hätte eine Frage an Sie.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Hallo?«
»Ja?«
»Ich müsste wissen, ob bei Ihnen ein gewisser Richard Wölzer Mitglied ist. Vielleicht auch ein Emil Sacher
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