Opferlämmer
der Menschen vor dem bösen Energieunternehmen. Ein Fanatiker. Und ich glaube nach wie vor, dass es einen terroristischen Hintergrund geben könnte.«
Außer dem Motiv und den Gegenständen, die Galt mit den Tatorten in Verbindung brachten, hatte Pulaski leider nichts gefunden, das auf den momentanen Aufenthaltsort des Täters oder sein nächstes Ziel hingedeutet hätte. Das war zwar enttäuschend, aber für Rhyme keine Überraschung; die Anschläge waren eindeutig gut geplant, und Galt war schlau. Er musste von vornherein gewusst haben, dass er enttarnt werden könnte, und hatte sicherlich ein Versteck vorbereitet.
Rhyme scrollte durch sein Telefonverzeichnis und ließ eine Nummer wählen.
»Andi Jessens Büro«, meldete sich eine müde Stimme aus dem Lautsprecher.
Rhyme nannte seinen Namen und wurde sogleich zu der Generaldirektorin durchgestellt.
»Ich habe gerade mit Gary Noble und Agent McDaniel gesprochen«, sagte sie. »Es hat fünf Tote gegeben. Und eine Vielzahl von Verletzten.«
»Das stimmt.«
»Es tut mir so leid. Wie schrecklich. Ich habe mir Ray Galts Personalakte kommen lassen. Sein Foto liegt hier vor mir auf dem Tisch. Er sieht nicht aus wie jemand, der zu so etwas fähig wäre.«
Das tun sie nie .
»Er ist überzeugt, dass sein Krebs durch die Arbeit an den Stromkabeln ausgelöst wurde«, erklärte Rhyme.
»Und deshalb diese Anschläge?«
»Es sieht ganz danach aus. Er fühlt sich im Recht. Er glaubt, dass Hochspannungsleitungen eine große Gefahr darstellen.«
Sie seufzte. »Wir sind zurzeit in ein halbes Dutzend entsprechender Gerichtsverfahren verwickelt. Hochspannungsleitungen erzeugen elektromagnetische Felder. Isolierungen und Wände schirmen den elektrischen Teil ab, aber nicht das Magnetfeld. Manche Leute sind der Ansicht, das könne zu Leukämie führen.«
Die Seiten aus Galts Drucker waren inzwischen eingescannt worden und auf Rhymes Monitor zu sehen. Er überflog die Texte.
»Galt schreibt außerdem, die Kabel würden Partikel anziehen, die Lungenkrebs bewirken können.«
»Nichts davon wurde je bewiesen. Ich bezweifle das. Ich bezweifle auch die Leukämie-Sache.«
»Tja, Galt nicht.«
»Was will er von uns?«
»Ich schätze, das wissen wir erst, wenn wir den nächsten Brief
mit Forderungen erhalten oder er anderweitig Kontakt mit Ihnen aufnimmt.«
»Ich werde mich über die Medien an ihn wenden und an seine Vernunft appellieren.«
»Das kann nicht schaden.« Rhyme war jedoch der Ansicht, dass Galt nicht einfach vorhatte, seinen Standpunkt zu verdeutlichen und dann die Flinte ins Korn zu werfen. Sie mussten davon ausgehen, dass er weiterhin Vergeltung üben wollte.
Dreiundzwanzig Meter Kabel und ein Dutzend Drahtverbindungsschrauben. Bisher hatte er etwa neun Meter des gestohlenen Kabels verbraucht.
Als Rhyme die Verbindung trennte, sah er, dass Pulaski mit gesenktem Kopf ebenfalls telefonierte. Der Beamte blickte auf und fühlte sich von seinem Chef ertappt. Eilig – und schuldbewusst – beendete er das Gespräch und ging hinüber zum Tisch mit den Beweismitteln. Er wollte nach einem der gefundenen Werkzeuge greifen, hielt dann aber abrupt inne, weil er merkte, dass er keine Latexhandschuhe trug. Er holte das Versäumnis nach und reinigte die Finger und Handflächen mit dem Kleberoller. Nun erst nahm er den Bolzenschneider.
Ein genauer Vergleich ergab, dass es sich bei Bolzenschneider und Bügelsäge um die am ersten Tatort verwendeten Werkzeuge handelte. Auch die Marke und Größe der Stiefel passten.
Doch das bestätigte nur, was sie bereits wussten: Raymond Galt war der Täter.
Danach nahmen sie sich das Papier und die Kugelschreiber vor, die Pulaski aus Galts Wohnung mitgebracht hatte. Es ließ sich keine Quelle feststellen, aber beides entsprach nahezu hundertprozentig dem Material des Erpresserbriefes.
Ihre nächste Entdeckung war weitaus beunruhigender.
Cooper musterte die Ergebnisse des Massenspektrometers. »Hier sind ein paar Partikel, die an zwei verschiedenen Orten sichergestellt wurden«, sagte er. »Zum einen an den Schnürsenkeln
der Stiefel und dem Griff des Bolzenschneiders aus Galts Wohnung. Und zum anderen am Ärmel des Technikers, den Galt in dem Tunnel angegriffen hat, Joey Barzan.«
»Und?«, fragte Rhyme.
»Es ist ein Kerosin-Derivat, das mit winzigen Mengen Phenol und Dinonylnaphthyl-Sulfonsäure versetzt wurde.«
»Gewöhnliches Flugbenzin für Strahltriebwerke«, sagte Rhyme. »Das Phenol sorgt für die Dünnflüssigkeit, und die
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