Opferlämmer
riechenden Wolke umgeben. Verbrannte Haare, verbranntes Gummi, verbranntes Fleisch. Manche Krüppel glaubten, ihre Behinderung schärfe die restlichen Sinne. Rhyme war sich dessen nicht so sicher, aber dieser Gestank fiel ihm jedenfalls deutlich auf.
Er betrachtete das Material, das Sachs und ein Techniker hier ablieferten, und war begierig darauf, die Geheimnisse in Angriff zu nehmen, die dadurch enthüllt werden mochten. Sachs und Cooper breiteten alles aus.
»Konnte die ESU feststellen, wo Galt den Tunnel verlassen hat?«, fragte Rhyme.
»Nein. Es gab nicht den geringsten Hinweis auf ihn.« Sachs sah sich um. »Wo ist Ron?«
Rhyme sagte, der Neuling sei noch immer nicht eingetroffen. »Ich habe ihn angerufen und eine Nachricht hinterlassen. Er hat sich nicht gemeldet. Bei unserem letzten Gespräch sagte er, er kenne nun Galts Motiv, aber er hat es nicht genauer erläutert… Was ist denn, Sachs?«
Er hatte sie dabei ertappt, wie sie mit versteinerter Miene aus dem Fenster starrte.
»Ich hab mich geirrt, Rhyme. Ich habe Zeit mit der Räumung der Baustelle verschwendet und das eigentliche Zielobjekt völlig übersehen.«
Sie erzählte, dass es Bob Cavanaugh gewesen sei, der letztlich die richtigen Schlüsse gezogen habe. Dann seufzte sie. »Wenn ich gründlicher nachgedacht hätte, hätte ich die Menschen vielleicht retten können.« Sie ging zu einer der Tafeln und legte eine neue Tabelle mit der Überschrift Tatort: Battery Park Hotel und Umgebung an. Die ersten Einträge waren die Namen der fünf Todesopfer: ein Ehepaar, ein Geschäftsmann aus Scottsdale, Arizona, ein Kellner und ein Werbefachmann aus Deutschland.
»Es hätte viel mehr Tote geben können«, sagte Rhyme. »Ich habe gehört, du hast die Fenster eingeschossen und die Leute auf diesem Weg evakuiert.«
Sie zuckte nur die Achseln.
Rhyme hielt nichts davon, sich bei der Polizeiarbeit im Nachhinein mit Vorwürfen zu quälen. Man bemühte sich eben nach Kräften und versuchte, aus jeder Situation das Beste zu machen.
Dennoch konnte er natürlich nachempfinden, was in Sachs vorging. Auch Rhyme ärgerte sich, dass es ihnen trotz des Wettlaufs mit der Zeit und des korrekt vorausgeahnten Zielgebiets nicht gelungen war, Opfer zu vermeiden und Galt festzunehmen.
Aber dieser Umstand machte ihm nicht so zu schaffen wie ihr. Ganz egal, wie viele Leute sich geirrt haben und welchen Anteil der Schuld sie tragen mochten, Sachs ging mit sich selbst stets am härtesten ins Gericht. Er könnte ihr jetzt sagen, dass ohne sie zweifellos noch mehr Menschen gestorben wären und dass Galt nun wusste, dass man ihn identifiziert und seinen Plan fast noch rechtzeitig durchschaut hatte. Womöglich stellte er seine Anschläge deswegen sogar ein und gab auf. Aber ein solcher Hinweis würde gönnerhaft wirken, und wäre Rhyme der Adressat gewesen – er hätte nicht mal hingehört.
Außerdem ließ sich nicht leugnen, dass der Täter entkommen konnte, weil sie nicht gut genug gewesen waren.
Sachs kehrte zum Untersuchungstisch zurück.
Ihr Gesicht war blasser als üblich; im Hinblick auf Make-up war sie ohnehin Minimalistin. Und Rhyme sah ihr an, dass auch dieser Tatort ihr zugesetzt hatte. Der Vorfall bei der Bushaltestelle hatte sie verunsichert – und tat das zum Teil immer noch. Doch das hier war eine andere Art von Schrecken; sie hatte bei dem Hotel mit angesehen, wie Menschen auf grausige Art gestorben waren. »Die Opfer haben … es war, als würden sie im Todeskampf tanzen, Rhyme«, hatte sie es ihm beschrieben.
Sachs hatte Galts Algonquin-Overall und -Helm mitgebracht, die Segeltuchtasche mit Werkzeugen und diversen Kleinteilen sowie ein weiteres der Bennington-Kabel, wie er es auch schon am Vortag für den Lichtbogen benutzt hatte. Darüber hinaus gab es mehrere Tüten mit Partikelspuren. Und einen Gegenstand in dicker Folie: Verglichen mit dem Umspannwerk an der Siebenundfünfzigsten Straße habe Galt das Kabel diesmal auf andere Weise an die Stromleitung angeschlossen, erklärte Sachs. Er habe zwar ebenfalls Drahtverbindungsschrauben benutzt, aber zwischen den beiden Kabeln sei außerdem dieser Plastikkasten montiert gewesen, ungefähr so groß wie ein gebundenes Buch.
Cooper überprüfte die Box auf Sprengstoff und öffnete sie dann. »Sieht selbst gebaut aus, aber ich habe keine Ahnung, was es sein könnte.«
»Lasst uns Charlie Sommers fragen«, schlug Sachs vor.
Fünf Minuten später waren sie mit dem Erfinder im Gebäude der Algonquin verbunden.
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