Opferlämmer
Unterstützung zu leisten.
Er endete mit der Bitte an die Bürger, jeden ungewöhnlichen Vorfall zu melden.
Na, das ist aber eine tolle Idee, dachte Rhyme. Wenn in New York City eines an der Tagesordnung ist, dann ungewöhnliche Vorfälle.
Und mit diesem Gedanken widmete er sich wieder den dürftigen Beweisen.
… Achtundvierzig
Susan Stringer verließ ihr Büro, das im siebenten Stock eines uralten Gebäudes in Midtown Manhattan lag, um siebzehn Uhr fünfundvierzig.
Sie grüßte die zwei Männer, die ebenfalls zum Aufzug wollten. Einen der beiden kannte sie flüchtig, denn sie waren sich schon gelegentlich begegnet. Larry brach jeden Tag ungefähr zur selben Zeit wie sie von hier auf. Mit dem Unterschied, dass er später in sein Büro zurückkehrte, um die Nacht durchzuarbeiten.
Susan hingegen machte sich auf den Heimweg.
Die attraktive Fünfunddreißigjährige war Redakteurin bei einer Fachzeitschrift für die Restaurierung von Kunstgegenständen und Antiquitäten, vornehmlich aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Hin und wieder schrieb sie auch Gedichte, von denen sogar schon welche veröffentlicht worden waren. Diese Vorlieben verhalfen ihr nur zu einem bescheidenen Einkommen, doch falls sie je an der Weisheit ihrer Berufswahl gezweifelt hatte, brauchte sie nur einem Gespräch wie dem zwischen Larry und seinem Freund zu lauschen, und schon wusste sie wieder, dass sie sich für manche Branchen niemals eignen würde – Juristerei, Finanz-, Bank- oder Rechnungswesen.
Die zwei Männer trugen sehr teure Anzüge, auffällige Armbanduhren und elegante Schuhe. Aber sie wirkten irgendwie gehetzt. Nervös. Es sah nicht so aus, als würden sie ihre Jobs sonderlich mögen. Der Freund beschwerte sich, dass sein Chef ihm
ständig im Nacken sitze. Larry klagte, eine Buchprüfung sei ihm »total abgekackt«.
Stress, Unzufriedenheit.
Und dann diese Wortwahl .
Susan war froh, dass sie sich mit so etwas nicht herumschlagen musste. Ihr Leben drehte sich um das Rokoko und das neoklassische Design von Könnern wie Chippendale, George Hepplewhite oder Sheraton.
Sachliche Schönheit – das beschrieb ihre Werke am besten.
»Du siehst völlig fertig aus«, sagte der Freund zu Larry.
Stimmt, pflichtete Susan ihm stumm bei.
»Bin ich auch. War ’ne Mordsarbeit.«
»Wann warst du zurück?«
»Dienstag.«
»Und du warst der Hauptprüfer?«
Larry nickte. »Die Bücher waren ein Albtraum. Zwölfstundentage. Ich hab’s nur am Sonntag geschafft, mal raus auf den Golfplatz zu kommen, und da war es siebenundvierzig Grad heiß.«
»Autsch.«
»Ich muss noch mal hin. Montag. Ich weiß einfach nicht, wo zum Teufel das Geld bleibt. Irgendwas ist da faul.«
»Bei so einer Hitze verdampft es vielleicht einfach.«
»Haha«, sagte Larry alles andere als belustigt.
Die Männer unterhielten sich weiter über Gewinn- und Verlustrechnungen und verschwundenes Geld, aber Susan blendete sie aus. Sie sah einen anderen Mann näher kommen. Er trug einen braunen Arbeitsoverall, eine Mütze und eine Brille. Sein Blick war gesenkt, und er hatte eine Werkzeugtasche und eine große Gießkanne bei sich. Er musste irgendwo anders gearbeitet haben, denn hier auf dem Flur und in Susans Büro gab es keine Zierpflanzen. Der Herausgeber der Zeitschrift hatte kein Geld für Grünzeug übrig und erst recht nicht für jemanden, der es gießen sollte.
Der Aufzug kam, und die beiden Geschäftsmänner ließen Susan vor. Sie dachte bei sich, dass es im einundzwanzigsten Jahrhundert wohl doch noch einen Rest von Ritterlichkeit geben musste. Der Handwerker stieg ebenfalls zu und drückte den Knopf für den fünften Stock. Doch im Gegensatz zu den anderen schob er sich grob an Susan vorbei, um in den hinteren Teil der Kabine zu gelangen.
Der Aufzug setzte sich in Bewegung. Larry schaute nach unten. »He, Mister, Vorsicht«, sagte er. »Bei Ihnen läuft was aus.«
Susan sah über die Schulter. Der Handwerker hatte versehentlich die Gießkanne geneigt und schüttete soeben Wasser auf den Edelstahlboden der Kabine.
»Oh, tut mir leid«, murmelte der Mann gleichgültig. Der ganze Boden war nass.
Die Tür öffnete sich, und der Handwerker stieg aus. Ein anderer Mann betrat die Kabine.
»Achtung«, warnte Larrys Freund mit lauter Stimme. »Der Kerl hat hier gerade Wasser verschüttet. Vom Aufwischen hält er offenbar nichts.«
Susan vermochte nicht zu sagen, ob der Missetäter das noch gehört hatte. Und selbst wenn – es hätte ihn wohl kaum
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