Opferlämmer
zu stellen. (Unter Leitung der Algonquin, vermutete Rhyme.)
Ihr Spitzname – der allerdings niemals in ihrer Anwesenheit gebraucht wurde – war »die Allmächtige«. Er bezog sich offenbar sowohl auf ihren harten Führungsstil als auch auf ihre ehrgeizigen Pläne für die Algonquin.
Ihre kontroversen Vorbehalte hinsichtlich grüner Energien kamen in einem Interview offen zur Sprache.
»Zunächst mal möchte ich betonen, dass wir bei der Algonquin Consolidated den erneuerbaren Energiequellen durchaus aufgeschlossen gegenüberstehen. Doch gleichzeitig glaube ich, dass wir alle realistisch bleiben müssen. Die Erde war schon Milliarden Jahre alt, bevor wir unsere Kiemen und Schwänze verloren und angefangen haben, Kohle zu verfeuern und Autos mit Verbrennungsmotoren zu fahren. Und sie wird auch noch hier sein, nachdem wir längst Geschichte sind. Wenn die Leute also sagen, sie möchten die Erde retten, dann geht es ihnen in Wahrheit um die Erhaltung ihres Lebensstils . Wir müssen uns eingestehen, dass wir Energie wollen, und zwar jede
Menge. Und dass wir sie benötigen — für den Fortschritt der Zivilisation, für unsere Ernährung und Ausbildung, für unsere technischen Spielereien, mit denen wir die Diktatoren dieser Welt im Auge behalten, und dafür, der Dritten Welt zum Anschluss an die Erste Welt zu verhelfen. Öl, Kohle, Erdgas und Kernkraft sind die besten Möglichkeiten, diese Energie bereitzustellen. «
Der Beitrag endete, und diverse Fachleute kritisierten Jessens Meinung oder stimmten ihr zu. Es galt jedoch als politisch korrekter – und förderlicher für die Einschaltquoten –, sie in der Luft zu zerreißen.
Schließlich wurde zum Rathaus umgeschaltet, wo vier Personen auf dem Podium standen: Jessen, der Bürgermeister, der Polizeipräsident und Gary Noble von der Homeland Security.
Der Bürgermeister sprach ein paar einleitende Worte und übergab das Mikrofon dann an Andi Jessen. Sie wirkte streng und beruhigend zugleich und versicherte den Leuten, die Algonquin tue alles, um Herrin der Lage zu bleiben. Man habe eine Reihe von zusätzlichen Vorkehrungen getroffen. Sie ließ jedoch offen, worum genau es sich dabei handeln mochte.
Rhyme und alle anderen im Raum waren überrascht, als Jessen nun den zweiten Erpresserbrief publik machte. Er nahm an, dass sie vorbeugen wollte: Falls es nicht gelang, Galt aufzuhalten, und falls beim nächsten Anschlag abermals Todesopfer zu beklagen waren, hätte das öffentliche Ansehen der Algonquin ansonsten katastrophalen Schaden genommen — von den eventuellen juristischen Konsequenzen ganz zu schweigen.
Die Reporter stürzten sich sofort darauf und bombardierten sie mit Fragen. Jessen bat sie kühl um Ruhe und erklärte, die Forderungen des Täters seien unmöglich zu erfüllen. Eine so drastische Reduzierung der Stromzufuhr würde Schäden in Höhe von mehreren Hundert Millionen Dollar anrichten. Und
höchstwahrscheinlich eine Vielzahl von Menschenleben fordern.
Sie fügte hinzu, auch die nationale Sicherheit würde dadurch bedroht, denn das Militär und die Regierungsstellen würden ebenfalls betroffen sein. »Die Algonquin ist für die Verteidigungsbereitschaft unseres Landes von elementarer Bedeutung, und wir werden dieser Verantwortung auf jeden Fall gerecht werden.«
Raffiniert, dachte Rhyme. Sie dreht die ganze Angelegenheit um.
Am Ende wandte sie sich direkt an Galt und forderte ihn auf, sich der Polizei zu stellen. Er würde ein faires Verfahren erhalten. »Bitte lassen Sie nicht Ihre Familie oder sonst jemanden dafür leiden, dass Ihnen eine solche Tragödie widerfahren ist. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihnen Ihr Schicksal zu erleichtern. Aber bitte, tun auch Sie nun das Richtige, und stellen Sie sich.«
Für weitere Fragen der Medien stand sie nicht zur Verfügung. Nur Sekunden nachdem sie geendet hatte, verließ sie das Podium. Ihre hohen Absätze klapperten laut.
Rhyme fiel auf, dass Jessens Mitgefühl zwar überzeugend wirkte, sie aber mit keiner Silbe eingeräumt hatte, dass die Firma irgendeinen Fehler begangen habe oder dass Hochspannungsleitungen bei Galt oder sonst wem tatsächlich Krebs ausgelöst haben könnten.
Der Polizeipräsident übernahm das Mikrofon und tat sein Bestes, um die Leute zu beschwichtigen. Sämtliche Strafverfolgungsbehörden konzentrierten sich derzeit auf die Fahndung nach Galt, und Einheiten der Nationalgarde stünden bereit, um bei weiteren Anschlägen oder Stromausfällen
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