Opferlämmer
Anwesenden – außer Thoms – fingen binnen fünf Sekunden an zu klingeln.
Die Anrufer waren unterschiedlich, aber die Nachricht war die Gleiche.
Obwohl die Frist erst in sieben Minuten verstrichen sein würde, hatte Ray Galt erneut zugeschlagen und wiederum unschuldige Menschen in Manhattan ermordet.
Sellittos Anrufer nannte ihnen die Einzelheiten. Aus dem Lautsprecher erklang die Stimme eines hörbar mitgenommenen jungen Streifenbeamten. Das Ziel des Anschlags war der Aufzug eines Bürogebäudes in Midtown gewesen. In der Kabine hatten sich vier Personen befunden. »Es war … es war ziemlich übel.« Die Stimme des Mannes stockte, und er musste husten – vielleicht wegen des Qualms, vielleicht auch, um sein Entsetzen zu überspielen.
Der Beamte entschuldigte sich und sagte, er werde sich in einigen Minuten noch mal melden.
Das tat er nicht.
… Fünfzig
Wieder dieser Geruch.
Würde Amelia ihn je loswerden?
Und auch wenn sie schrubbte und schrubbte und ihre Kleidung wegwarf — konnte sie ihn je vergessen ? Offenbar waren der Ärmel und die Haare eines der Opfer in der Aufzugkabine in Brand geraten. Die Flammen hatten kaum Schaden angerichtet, aber der Rauch war dicht und der Gestank widerwärtig.
Sachs und Ron Pulaski zogen sich ihre Overalls an.
»TATF?«, fragte sie einen der ESU-Cops und wies auf die verqualmte Kabine.
Tod am Tatort festgestellt?
»Ja.«
»Wo sind die Leichen?«
»Ein Stück den Flur hinauf. Ich weiß, dass wir die Kabine verunreinigt haben, Detective, aber da war überall Rauch, und wir wussten nicht, was eigentlich vor sich ging. Wir mussten den Aufzug räumen.«
»Kein Problem«, sagte sie. Das Überleben der Opfer stand stets an erster Stelle. Außerdem verunreinigte nichts einen Tatort so sehr wie ein Feuer. Ein paar zusätzliche Schuhabdrücke fielen da kaum ins Gewicht.
»Wie ist es abgelaufen?«, fragte sie den Kollegen.
»Wir sind uns nicht sicher. Der Hausverwalter des Gebäudes sagt, die Kabine habe kurz vor dem Erdgeschoss angehalten. Dann habe der Qualm angefangen. Und die Schreie. Als die
Kabine endlich unten war und die Tür aufging, war alles vorbei. «
Sachs erschauderte. Die geschmolzenen Metallscheibchen waren schon schlimm genug, aber das hier machte ihr noch mehr zu schaffen, denn sie litt unter Klaustrophobie. Schon allein die Vorstellung von vier Leuten in einem so engen Kasten, der unter Strom gesetzt wurde … Und dann ging auch noch einer von ihnen in Flammen auf!
Der ESU-Beamte zog seine Notizen zurate. »Die Opfer sind die Redakteurin einer Kunstzeitschrift, ein Anwalt und ein Buchprüfer aus dem siebenten Stock. Außerdem ein Handelsvertreter für Computerteile aus dem fünften. Nur falls es Sie interessiert.«
Sachs war prinzipiell an allem interessiert, das die Opfer zu echten Personen werden ließ. Ein Grund dafür war, dass sie sich ihr Seelenheil bewahren und verhindern wollte, durch ihre beruflichen Erfahrungen abzustumpfen. Doch zum Teil war auch Rhyme dafür verantwortlich. Er mochte überzeugter Wissenschaftler und Rationalist sein, aber sein Talent als forensischer Experte basierte auch darauf, dass er sich erschreckend gut in die Gedanken des Täters einfühlen konnte.
Vor vielen Jahren, bei ihrer ersten Zusammenarbeit, war eines der Opfer durch heißen Dampf getötet worden. Rhyme hatte ihr damals etwas zugeflüstert, das ihr seitdem bei jeder neuen Tatortuntersuchung durch den Kopf ging: »Ich will, dass du zu ihm wirst.« (Gemeint war der Täter.) »Versetz dich an seine Stelle. Bislang hast du so gedacht wie wir. Ich möchte, dass du nun denkst wie er.«
Rhyme hatte zu ihr gesagt, die forensische Wissenschaft könne man lernen, aber eine solche Empathie sei angeboren. Sachs wiederum glaubte, dass man diesen sechsten Sinn, diese Verbindung zwischen Herz und Hirn, am besten dadurch schärfte, dass man niemals die Opfer vergaß.
»Fertig?«, fragte sie Pulaski.
»Schätze schon.«
»Wir fangen jetzt mit dem Gitternetz an, Rhyme«, sagte sie in ihr Mikrofon.
»Okay, aber diesmal ohne mich, Sachs.«
Sie merkte auf. Ungeachtet seiner gegenteiligen Beteuerungen ging es Rhyme gesundheitlich nicht gut, das erkannte sie mühelos. Doch wie sich herausstellte, gab es für seinen Rückzug einen anderen Grund. »Ich möchte, dass du stattdessen mit diesem Mann von der Algonquin sprichst.«
»Sommers?«
»Genau.«
»Warum?«
»Zunächst mal gefällt mir seine Art zu denken. Er trägt keine Scheuklappen. Vielleicht weil er Erfinder
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