Opferlämmer
wir einen weiteren Erpresserbrief erhalten haben, der ebenfalls Spuren von Flugbenzin aufweist. Die Vorsichtsmaßnahmen im Luftverkehr sollten verschärft werden. Und benachrichtigen Sie auch das Verteidigungsministerium. Es könnte ein Anschlag auf einen Militärflugplatz drohen, vor allem falls Tucker mit seinem Terrorverdacht recht hat. Kriegen Sie das hin? Mit dem Pentagon zu sprechen? Und denen das Risiko klarzumachen?«
»Ja, ich erledige das.«
Rhyme wandte sich seufzend wieder den Tabellen zu. Symbiotische Terrorzellen, Kumulonimbus-Kommunikation und ein unsichtbarer Täter mit einer unsichtbaren Waffe.
Und was den anderen Fall anging, den Versuch, den Uhrmacher in Mexico City zu erwischen? — Nichts außer der rätselhaften Platine, der zugehörigen Bedienungsanleitung und zwei bedeutungslosen Zahlen:
Fünfhundertsiebzig und dreihundertneunundsiebzig …
Was ihn an andere Ziffern denken ließ, nämlich die auf seiner Uhr, die sich unerbittlich dem Ende der nächsten Frist näherten.
ZWEITER ERPRESSERBRIEF
An Bernard Wahl geliefert, Sicherheitschef der Algonquin.
– Wurde von Galt überfallen.
– Kein physischer Kontakt; keine Partikel.
– Keine Hinweise auf Versteck oder nächstes Anschlagziel.
Papier und Tinte passen zu den Proben aus Galts Wohnung.
Papier weist Spuren von alternativem Jet-Treibstoff auf.
– Anschlag auf Militärbasis?
TÄTER PROFIL
Identifiziert als Raymond Galt, 40, Single, wohnhaft in Manhattan, 227 Suffolk Street.
Terroristischer Hintergrund? Zusammenhang mit »Gerechtigkeit für [unbekannt]«? Terrorgruppe? Person namens Rahman beteiligt? Verschlüsselte Hinweise auf Geldtransfers, personelle Verschiebungen und etwas »Großes«.
– Möglicher Zusammenhang mit Einbruch in Algonquin-Umspannwerk in Philadelphia.
— SIGINT-Treffer: Schlüsselbegriffe für Waffen, »Papier« und »Bedarf« (Schusswaffen, Sprengstoff ?)
— Mitverschwörer sind ein Mann und eine Frau
— Galts Beteiligung unklar.
Krebspatient; Haar enthält beachtliche Mengen von Vinblastin und Prednison sowie Spuren von Etoposid. Leukämie.
Galt ist bewaffnet mit 45er Colt Automatik, Modell 1911.
… Siebenundvierzig
Sie hatten den Fernseher in Rhymes Labor eingeschaltet.
Im Vorfeld von Andi Jessens Pressekonferenz, die in wenigen Minuten beginnen würde, lief ein Beitrag über die Algonquin Consolidated und über Jessen persönlich. Rhyme wollte mehr über die Frau wissen und verfolgte aufmerksam, wie der Sprecher Jessens Werdegang in der Branche beschrieb. Vor ihr hatte ihr Vater die Firma geleitet. Es war dennoch keine Vetternwirtschaft im Spiel gewesen; die Frau besaß Abschlüsse in Elektrotechnik und Betriebswirtschaft und hatte sich von unten hochgedient. Angefangen hatte sie als Technikerin im Staat New York.
Von da an hatte sie ihr gesamtes Berufsleben bei der Algonquin verbracht. Sie wurde mit der Äußerung zitiert, dass sie sich voll und ganz dem Ziel widme, das Unternehmen zum größten Energieerzeuger und -händler des Landes zu machen. Rhyme hatte nicht gewusst, dass infolge der Deregulierung vor einigen Jahren die Energieversorger immer mehr zu Maklern geworden waren: Sie kauften anderen Firmen deren Strom- und Erdgaskapazitäten ab und boten sie selbst auf dem Markt an. Manche hatten sogar ihre sämtlichen Kraftwerks- und Netzbeteiligungen abgestoßen und sich vollends auf den neuen Geschäftszweig konzentriert, sodass die Unternehmen nur noch aus Büros, Computern und Telefonen bestanden.
Mit sehr großen Banken im Hintergrund.
Enron zähle zu den prominentesten Vertretern dieser Richtung, erklärte der Reporter.
Andi Jessen war jedoch niemals den Verlockungen der dunklen Seite erlegen – Übermaß, Arroganz, Gier. Die klein gewachsene, hochgradig kompetente Frau leitete die Algonquin mit altmodischer Genügsamkeit und scheute das Licht der Öffentlichkeit. Sie war geschieden und hatte keine Kinder. Ihr ganzes Leben schien sich um die Algonquin zu drehen, und ihr einziger Angehöriger war ein Bruder, Randall Jessen, der in Philadelphia wohnte. Er war ein dekorierter Veteran und hatte in Afghanistan gedient, bis die Verletzungen durch eine Sprengfalle seiner Militärlaufbahn ein Ende bereiteten.
Andi gehörte zu den landesweit entschiedensten Befürwortern des sogenannten »Mega-Netzes«, eines vereinigten Verbundnetzes, das ganz Nordamerika umfasste. Ihrer Ansicht nach wäre es auf diese Weise wesentlich effizienter möglich, Strom zu produzieren und den Verbrauchern zur Verfügung
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