Opferlämmer
gravierenden Verletzungen lebenslange Folgen hatten, kamen ernste Rückenmarksprobleme verglichen mit anderen Krankheiten relativ selten vor. Was bedeutete, dass die staatlichen Gelder und privatwirtschaftlichen Forschungsmittel in Bereiche investiert wurden, von denen eine größere Anzahl Patienten profitieren würde. Aus diesem Grund blieben die meisten der Behandlungsansätze, die eine deutliche Verbesserung versprachen, im Versuchsstadium stecken und erhielten in den USA keine Zulassung.
Und manche der Resultate waren wirklich beeindruckend. In Laborversuchen war es geglückt, Ratten mit durchtrenntem Rückenmark wieder laufen zu lassen.
»Das Zentrum hat auch ein Notfallteam, aber dafür ist es bei uns natürlich schon zu spät.«
Um eine Schädigung des Rückenmarks so gering wie möglich zu halten, muss der betroffene Bereich sofort nach dem Unfall mit Medikamenten behandelt werden, die ein Anschwellen der Stelle und damit das Absterben weiterer Nervenzellen verhindern. Doch dafür steht nur ein sehr schmales Zeitfenster von zumeist Stunden und höchstens einigen Tagen zur Verfügung.
Als Langzeitpatienten mussten Rhyme und Susan Stringer
sich auf Methoden beschränken, die den Schaden eventuell reparieren konnten. Dabei stießen sie früher oder später stets auf dasselbe Problem: Zellen des zentralen Nervensystems – also diejenigen in Gehirn und Rückenmark – regenerieren sich nicht wie die Haut am Finger, nachdem man sich geschnitten hat.
Das war der Kampf, den die Fachärzte und Forscher jeden Tag ausfochten, und Pembroke zählte zu ihren Speerspitzen. Susan schilderte Rhyme eine beachtliche Reihe von Gebieten, auf denen das Zentrum tätig war. Die Leute dort arbeiteten mit Stammzellen, legten Nervenumleitungen — indem sie Nerven außerhalb des Rückenmarks nutzten, denn die können sich regenerieren – und behandelten die geschädigten Bereiche mit Medikamenten und anderen heilenden Substanzen, um die Regeneration zu fördern. Sie bauten sogar nichtzellulare »Brücken« über die verletzte Stelle hinweg, um die Nervenimpulse zwischen Gehirn und Muskeln zu übermitteln.
Darüber hinaus bot das Zentrum eine große Prothetik-Abteilung.
»Es war erstaunlich«, erzählte Susan. »Ich habe ein Video von einer Querschnittsgelähmten gesehen, der man eine Computersteuerung und ein paar Drähte implantiert hatte. Sie konnte wieder fast normal gehen.«
Rhyme starrte das Bennington-Kabel an, das Galt bei dem ersten Anschlag benutzt hatte.
Drähte …
Sie beschrieb ihm das sogenannte Freihand-System und ähnliche Verfahren, bei denen Stimulatoren und Elektroden in die Arme eingesetzt wurden. Indem man die Schultern zuckte oder den Hals auf bestimmte Weise reckte, löste man koordinierte Bewegungen der Arme und Hände aus. Manche zuvor vom Hals abwärts gelähmte Patienten konnten so wieder eigenständig Nahrung zu sich nehmen.
»Nicht wie bei diesen Scharlatanen, die verzweifelten Menschen
das Geld aus der Tasche ziehen.« Susan erzählte verärgert von einem Arzt in China, der 20 000 Dollar dafür nahm, dass er Löcher in die Schädel und Wirbelsäulen seiner Patienten bohrte und ihnen embryonales Gewebe injizierte. Was natürlich keinerlei Effekt hatte – außer dass der Patient Gefahr lief, bankrottzugehen, seine Verletzung zu verschlimmern oder gar an der »Behandlung« zu sterben.
Das Pembroke-Personal hingegen sei an den weltweit besten medizinischen Fakultäten ausgebildet worden, sagte Susan.
Und die Versprechungen waren realistisch – das hieß, maßvoll. Ein C4-Patient wie Rhyme würde nicht wieder aufstehen können, aber es könnte ihm gelingen, seine Lungenfunktion zu verbessern, vielleicht weitere Finger zu bewegen und, was am wichtigsten war, seinen Darm und die Blase zu kontrollieren. Das wäre sehr hilfreich, um die Gefahr einer autonomen Dysregulation zu verringern – dem massiven und plötzlichen Anstieg des Blutdrucks, der einen Schlaganfall nach sich ziehen und Rhyme noch mehr schädigen – oder töten – konnte.
»Mir wurde dort sehr geholfen. Ich glaube, in ein paar Jahren kann ich wieder gehen.«
Rhyme nickte. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Ich arbeite nicht für das Zentrum. Ich engagiere mich auch nicht für mehr Behindertenrechte. Ich bin eine Redakteurin und sitze zufällig im Rollstuhl.«
Als er das hörte, musste Rhyme unwillkürlich lächeln.
»Aber als Detective Sachs gesagt hat, dass sie mit Ihnen zusammenarbeitet, dachte ich: Das ist
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