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Opferlämmer

Opferlämmer

Titel: Opferlämmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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und es kam ihm so vor, als seien seine Wangen gerötet. Beides gehörte zu den Symptomen einer Dysregulation. Aber er hatte keine Kopfschmerzen, und er verspürte nicht das Gefühl, das einem solchen Anfall üblicherweise vorausging. Thom machte sich an seine abendlichen Aufgaben. Danach lagen Blutdruckmessgerät und Thermometer schon bereit. »Etwas erhöht«, sagte Thom zur Anzeige des Ersteren. Und was Letzteres anging, hatte Rhyme doch kein Fieber.
    Mit geübter Bewegung hob Thom ihn ins Bett. Rhyme musste an Sachs’ Bemerkung von vor einigen Minuten denken.
    Wir alle haben eine Temperatur, Rhyme.
    Nüchtern betrachtet stimmte das. Es galt für jeden. Sogar für die Toten.

… Vierundfünfzig
    Er schreckte aus einem Traum hoch.
    Und versuchte sich daran zu erinnern. Aber er wusste nicht mehr, ob es ein Albtraum oder einfach nur ein merkwürdiger Traum gewesen war. Jedenfalls ein intensiver Traum. Mit erhöhter Wahrscheinlichkeit für einen Albtraum, denn er schwitzte so stark, als würde er gerade die Turbinenhalle der Algonquin Consolidated durchqueren.
    Es war kurz vor Mitternacht, wie ihm die schwach leuchtende Digitalanzeige seines Weckers verriet. Er hatte nur kurz geschlafen und war immer noch erschöpft; es dauerte einen Moment, bis er sich orientiert hatte.
    Nach dem Anschlag auf das Hotel hatte er Overall, Helm und Werkzeugtasche zurückgelassen, eines jedoch behalten: den Dienstausweis, der nun an der Lehne eines nahen Stuhls hing. Er starrte die in Folie eingeschweißte Karte an: das Foto seines mürrischen Gesichts, »R. Galt« in unpersönlichen Druckbuchstaben und darüber in etwas hübscherer Schrift:
    ALGONQUIN CONSOLIDATED POWER
WIR BRINGEN ENERGIE IN IHR LEBEN TM
    In Anbetracht dessen, was er während der letzten Tage gemacht hatte, entbehrte der Slogan nicht einer gewissen Ironie.
    Er legte sich wieder hin und starrte die schäbige Decke des Verstecks im East Village an, das er vor einem Monat unter
falschem Namen angemietet hatte. Ihm war klar gewesen, dass die Polizei die Wohnung früher oder später entdecken würde.
    Früher, wie sich herausgestellt hatte.
    Er schlug die Bettdecke beiseite. Seine Haut war feucht vom Schweiß.
    Das ließ ihn an die Leitfähigkeit des menschlichen Körpers denken. Der Widerstand unserer glitschigen inneren Organe kann bis auf lächerliche 85 Ohm sinken, was sie überaus anfällig für Strom macht. Nasse Haut liegt bei etwa 1000 Ohm oder weniger. Trockene Haut hingegen hat 100 000 Ohm oder mehr. Das ist so viel, dass eine beachtliche elektrische Spannung benötigt wird, um diesen Widerstand zu überwinden – zumeist etwa 2000 Volt.
    Schweiß stellt dabei eine wesentliche Erleichterung dar.
    Seine Haut kühlte sich beim Trocknen ab, und sein Widerstand stieg.
    Sein Verstand sprang von Gedanke zu Gedanke: die Pläne für morgen, welche Spannungen angebracht waren, wie die Installation aussehen musste. Er dachte an die Leute, mit denen er zusammenarbeitete. Und er dachte an die Leute, die ihn verfolgten. Diese Frau, Sachs. Der junge Kerl, Pulaski. Und natürlich Lincoln Rhyme.
    Dann sann er über etwas völlig anderes nach: zwei Männer in den Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, die Chemiker Stanley Miller und Harold Urey an der Universität von Chicago. Sie dachten sich ein sehr interessantes Experiment aus und schufen in ihrem Labor eine Version der Ursuppe und Atmosphäre, wie sie vor Milliarden von Jahren auf der Erde vorgeherrscht hatte. In diese Mischung aus Wasserstoff, Ammoniak und Methan feuerten sie Funken, um die Blitze nachzubilden, die damals auf die Erde hinabgeprasselt waren.
    Und was geschah?
    Einige Tage später stellten sie etwas Sensationelles fest: In den
Reagenzgläsern ließen sich Spuren von Aminosäuren nachweisen, den sogenannten Bausteinen des Lebens.
    Sie hatten einen Beweis dafür gefunden, dass das Leben auf der Erde nur durch einen Funken Elektrizität entstanden war.
    Nun, gegen Mitternacht, überlegte er sich seinen nächsten Brief mit Forderungen an die Algonquin und die Stadt New York. Dann übermannte ihn der Schlaf, und er dachte erneut an elektrischen Strom. Und an die Ironie, dass der in einer Millisekunde aufzuckende Blitz, der vor so vielen, vielen Jahren das Leben erschaffen hatte, morgen wieder Leben nehmen würde, und zwar genauso schnell.

Earth Day
III
    SAFT
    »Ich habe nicht versagt. Ich habe mit Erfolg zehntausend Wege entdeckt, die zu keinem Ergebnis führen.«
    THOMAS ALVA EDISON

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