Opferlämmer
Schicksal«, fuhr Susan fort. »Ich sollte herkommen und Ihnen von Pembroke erzählen. Man kann Ihnen dort helfen.«
»Ich … danke Ihnen für den Hinweis.«
»Ich kenne Sie natürlich aus der Zeitung. Die Stadt hat Ihnen viel zu verdanken. Vielleicht ist es an der Zeit, dass Sie sich nun selbst etwas Gutes tun.«
»Na ja, das ist kompliziert.« Er hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte oder auch nur wieso er es gesagt hatte.
»Ich weiß, Sie fürchten die Risiken. Und das sollten Sie auch.«
Es stimmte: Für einen C4-Patienten wie ihn wäre eine Operation riskanter als für Susan. Ihm drohten Probleme mit dem Blutdruck, der Atmung und etwaigen Infektionen. Man musste es abwägen. War der Eingriff das wert? Vor einigen Jahren hätte er sich beinahe einem experimentellen Verfahren unterzogen, aber ein Fall war ihm in die Quere gekommen. Danach hatte er alle derartigen Versuche auf unbestimmte Zeit verschoben.
Und jetzt? War sein Leben so, wie er es sich wünschte? Natürlich nicht. Aber er war zufrieden. Er liebte Sachs und sie ihn. Er lebte für seine Arbeit. Und er wollte nicht all das wegwerfen, um einem vagen Traum nachzujagen.
Obwohl er für gewöhnlich nicht mit seinen Gefühlen hausieren ging, erzählte er Susan Stringer nun davon, und sie verstand ihn.
Dann überraschte er sich selbst, indem er etwas hinzufügte, das er bisher kaum jemandem anvertraut hatte. »Ich habe das Gefühl, dass ich im Wesentlichen aus meinem Intellekt bestehe. Dort fühle ich mich zu Hause. Und manchmal glaube ich, dass mein Zustand mich zu dem Kriminalisten gemacht hat, der ich heute bin. Nichts lenkt mich ab. Meine Stärke erwächst aus meiner Behinderung. Falls ich mich ändern und – in Anführungszeichen – normal werden würde, hätte das auch Auswirkungen auf mich als forensischen Wissenschaftler? Ich weiß es nicht. Aber ich möchte es nicht darauf ankommen lassen.«
Susan überlegte. »Das ist ein interessanter Gedanke. Aber ich frage mich, ob er nicht womöglich eine Krücke ist, ein Vorwand, das Risiko nicht einzugehen.«
Rhyme wusste ihre Offenheit zu schätzen. Er nickte in Richtung seines Rollstuhls. »In meinem Fall wäre eine Krücke schon ein echter Fortschritt.«
Sie lachte.
»Danke, dass Sie an mich gedacht haben«, fügte er hinzu, weil es in so einer Situation wohl angebracht war und sie ihn zudem schon wieder mit ihrem wissenden Blick musterte. Rhyme ärgerte sich zwar nicht mehr darüber, aber besonders angenehm war es auch nicht.
Sie rollte ein Stück zurück. »Auftrag ausgeführt.«
Er runzelte die Stirn.
»Ich habe Ihnen zwei Fasern gebracht, die Sie sonst nicht gehabt hätten«, sagte Susan und lächelte. »Ich wünschte, es wäre mehr gewesen. Doch manchmal sind es die kleinen Dinge, die alles verändern. Jetzt muss ich aber los.«
Sachs dankte ihr, und Thom begleitete sie zur Tür.
»Das war so geplant, nicht wahr?«, fragte Rhyme, nachdem Susan weg war.
»Zum Teil, Rhyme«, erwiderte Sachs. »Wir mussten sie ohnehin befragen. Als ich sie angerufen habe, um den Termin abzusprechen, haben wir uns ein wenig unterhalten, und als sie hörte, dass ich mit dir zusammenarbeite, wollte sie dir ihren Vorschlag unterbreiten. Ich habe ihr versprochen, sie würde ihre Chance bekommen.«
Rhyme lächelte und wurde gleich wieder ernst, als Sachs in die Hocke ging und ihm etwas zuflüsterte, das Mel Cooper nicht hören sollte. »Ich möchte dich nicht anders haben, als du bist, Rhyme. Aber ich möchte alles tun, damit du gesund bleibst. Welche Entscheidung du auch triffst, ich unterstütze dich.«
Einen Moment lang musste Rhyme an den Titel der Broschüre denken, die Dr. Kopeski von Sterben in Würde ihm dagelassen hatte.
Die freie Wahl .
Sachs beugte sich vor und küsste ihn. Er spürte, wie sie ihm ihre Hand auf die Wange legte. Für eine zärtliche Geste dauerte es ein wenig zu lange.
»Hab ich Temperatur?«, fragte er und lächelte, weil er sie erwischt hatte.
Sie lachte. »Wir alle haben eine Temperatur, Rhyme. Aber ob du Fieber hast oder nicht, kann ich nicht sagen.« Sie küsste ihn erneut. »Und jetzt schlaf ein wenig. Mel und ich halten hier noch eine Weile die Stellung. Aber ich gehe auch bald zu Bett.«
Rhyme zögerte, kam jedoch zu dem Schluss, dass er tatsächlich zu müde war, um den anderen im Augenblick von Nutzen zu sein. Er rollte zum Aufzug, wo Thom sich ihm anschloss und mit ihm in der winzigen Kabine nach oben fuhr. Es stand ihm immer noch Schweiß auf der Stirn,
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