Opferlämmer
hatte, war ihr der Gedanke gekommen, sich zur Sicherheit ein weiteres Mal mit Sommers’ Detektor zu vergewissern, dass es in der Schule auch wirklich keinen Strom gab.
Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass die Metalltür in wenigen Zentimetern Entfernung unter 220 Volt stand. Und der Beton unter ihren Schuhen war nass. Ob Galt sich nun im Gebäude befand oder nicht — er hatte die Metallteile der Schule verkabelt. Und der Lärm, den sie hörten, stammte vermutlich von einem Dieselgenerator.
Wenn Galt die Tür unter Strom gesetzt hatte, dann gewiss auch die Feuerleiter. Sachs sprang auf und eilte Pulaski hinterher. Sie wagte es nicht, seinen Namen zu rufen oder auch nur zu flüstern, denn Galt hätte es hören und das Feuer eröffnen können.
Also benutzte sie ihren Taser.
Sie trug das Modell X26 bei sich, dessen Sonden unter variable Spannung gesetzt wurden. Die Reichweite betrug knapp elf Meter. Als Sachs sah, dass sie Pulaski nicht rechtzeitig einholen konnte, jagte sie ihm die beiden Sonden in den Arm. Die neuromuskuläre Lähmung ließ ihn sofort umkippen. Er stürzte schwer auf die Schulter, stieß sich aber Gott sei Dank nicht erneut den Kopf an. Sachs zerrte ihn in Deckung, wo er keuchend und zitternd liegen blieb. Dann hatte sie den Generator gesucht und abgestellt, unmittelbar bevor die ESU eingetroffen war, das Schloss am Tor aufgebrochen und die Schule gestürmt hatte.
»Sie sehen ein wenig benommen aus«, sagte Sachs nun.
»Das war ganz schön heftig«, entgegnete Pulaski und atmete tief durch.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte sie.
»Es geht mir gut. Ich helfe ihm Tatort.« Er blinzelte verwundert, als wäre er betrunken. »Ich meine, ich helfe Ihnen beim Tatort.«
»Kriegen Sie das hin?«
»Solange ich mich nicht zu schnell bewege. Aber hören Sie, dieses Ding da, das Charlie Sommers Ihnen gegeben hat, dieses
Teil … Halten Sie das bloß ständig bereit, okay? Ich fasse nichts an, ohne dass Sie es vorher überprüft haben.«
Als Erstes nahmen sie sich den Generator hinter der Schule vor. Pulaski sammelte und tütete die Kabel ein, mit denen die Tür und die Feuerleiter unter Strom gesetzt worden waren. Sachs suchte rund um den Generator. Es war ein stattliches Gerät, mehr als einen Meter hoch und einen knappen Meter lang. Auf einer Plakette stand zu lesen, die maximale Ausgangsleistung betrage 5000 Watt bei einer Stromstärke von 41 Ampere.
Etwa vierhundert Mal so viel, wie nötig war, um einen Menschen zu töten.
Sachs zeigte auf den Generator. »Könnt ihr den einpacken und zu Rhyme bringen?«, bat sie das Team der Spurensicherung, das soeben aus Queens eingetroffen war. Der Generator wog bestimmt hundert Kilo.
»Kein Problem, Amelia. Wir liefern ihn euch so schnell wie möglich.«
»Lassen Sie uns jetzt drinnen anfangen«, wandte sie sich an Pulaski.
Sie waren auf dem Weg zum Hauptgebäude, als Sachs’ Telefon klingelte. Im Display wurde »Rhyme« angezeigt.
»Das wird aber auch Zeit«, meldete sie sich scherzhaft. »Ich habe hier …«
»Amelia.« Das war Thoms Stimme, aber den Tonfall hatte sie bei ihm noch nie gehört. »Komm besser her. Und zwar sofort.«
… Vierundsechzig
Sachs rannte keuchend die Rampe vor Rhymes Haus empor und stieß die Tür auf.
Dann mit wenigen lauten Schritten nach rechts ins Wohnzimmer, gegenüber dem Labor.
Thom blickte ihr entgegen. Er stand bei Lincoln Rhyme, der mit bleichem, feuchtem Gesicht und geschlossenen Augen in seinem Rollstuhl saß. Anwesend war außerdem einer von Rhymes Ärzten, ein stämmiger Afroamerikaner, zu Collegezeiten ein Footballstar.
»Dr. Ralston«, sagte Sachs zwischen zwei Atemzügen.
Er nickte. »Amelia.«
Schließlich öffnete Rhyme die Augen. »Ah, Sachs.« Seine Stimme war schwach.
»Wie geht es dir?«
»Nein, nein, wie geht es dir ?«
»Gut.«
»Und dem Grünschnabel?«
»Der hätte beinahe ein Problem bekommen, aber es ist noch mal gut gegangen.«
»Galt hatte einen Generator, nicht wahr?«, fragte Rhyme angespannt.
»Ja. Woher weißt du das? Hat die Spurensicherung angerufen? «
»Nein, ich hab es mir zusammengereimt. Diesel und Kräuter aus Chinatown. Die Tatsache, dass es in der Schule keinen
Strom zu geben schien. Es musste eine Falle sein. Aber bevor ich euch warnen konnte, gab es hier ein paar Schwierigkeiten.«
»Egal, Rhyme«, sagte sie. »Ich bin noch rechtzeitig draufgekommen. «
Sie verschwieg ihm, wie knapp Pulaski dem Tod entronnen war.
»Ich … Gut.«
Sie begriff, dass er
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