Opferlämmer
glaubte, versagt zu haben. Er warf sich vor, dass Sachs oder Pulaski oder beide fast verletzt oder gar getötet worden wären. Unter normalen Umständen hätte er darauf mit Wut reagiert. Er hätte nach einem Drink verlangt, beim kleinsten Anlass geschimpft, sich in Sarkasmen ergangen und bei allem in Wahrheit nur sich selbst gemeint, wie sie und Thom sehr wohl wussten.
Doch das hier war anders. Da lag etwas in seinem Blick, das ihr ganz und gar nicht gefiel. Es mochte seltsam klingen, aber trotz seiner schweren Behinderung wirkte Lincoln Rhyme für gewöhnlich keineswegs verletzlich. Doch nun, nach diesem vermeintlichen Versäumnis, war er ein Schatten seiner selbst.
Sachs musste den Blick abwenden und sah stattdessen den Arzt an.
»Er ist außer Gefahr«, versicherte Ralston. »Der Blutdruck ist wieder unten.« Dann wandte er sich an Rhyme; Rückenmarksverletzte können es nicht ausstehen – noch weniger als die meisten anderen Patienten –, wenn in ihrem Beisein über sie in der dritten Person gesprochen wird. Was häufig vorkommt. »Bleiben Sie möglichst lange im Rollstuhl, und meiden Sie das Bett. Achten Sie darauf, regelmäßig zur Toilette zu gehen. Tragen Sie weite Kleidung und keine engen Socken.«
Rhyme nickte. »Warum ist es ausgerechnet jetzt passiert?«
»Sie hatten vermutlich Stress, und dann kam irgendwo Druck dazu. In Magen, Darm oder Blase, durch die Schuhe, die Hose … Sie wissen ja, wie eine Dysregulation abläuft. Der größte Teil ist nach wie vor rätselhaft.«
»Wie lange war ich weggetreten?«
»Vierzig Minuten«, sagte Thom. »Mal mehr, mal weniger.«
Rhyme lehnte den Kopf zurück. »Vierzig«, flüsterte er. Sachs wusste, dass er sich immer wieder vorwerfen würde, um ein Haar ihren und Pulaskis Tod verschuldet zu haben.
Nun schaute er zum Labor. »Wo sind die neuen Beweise?«
»Ich bin vorgefahren. Ron ist noch unterwegs. Für den Generator haben wir ein paar Leute aus Queens um Unterstützung gebeten. Das Ding ist ziemlich schwer.«
»Kommt Ron auch?«
»Ja«, bestätigte sie, obwohl sie es ihm gerade erst gesagt hatte. Waren durch den Anfall seine Sinne getrübt? Vielleicht hatte der Arzt ihm ein Schmerzmittel gegeben. Eine Dysregulation geht mit furchtbaren Kopfschmerzen einher.
»Gut. Und ist er bald hier? Ron?«
Ein unschlüssiger Blick zu Thom.
»Er müsste gleich eintreffen«, sagte sie.
»Lincoln«, sagte Dr. Ralston, »es wäre mir lieber, Sie würden es für den Rest des Tages locker angehen lassen.«
Rhyme zögerte, senkte den Blick. Würde er sich einer solchen Bitte tatsächlich fügen?
Doch dann sagte er leise: »Tut mir leid, Doktor, das kann ich nicht. Wir haben einen Fall … er ist sehr wichtig.«
»Die Sache mit dem Stromnetz? Die Terroristen?«
»Ja. Ich hoffe, Sie haben Verständnis.« Er schaute immer noch nach unten. »Es tut mir leid. Ich muss unbedingt an die Arbeit.«
Sachs und Thom sahen einander an. Rhymes kleinlaute Haltung war untypisch, gelinde gesagt.
Und erneut diese Verletzlichkeit in seinem Blick.
»Ich weiß, dass der Fall wichtig ist, Lincoln. Und ich kann Sie zu nichts zwingen. Aber denken Sie an meine Worte: Bleiben Sie aufrecht sitzen, und ersparen Sie Ihrem Körper jede Art von Druck, ob innerlich oder äußerlich. Ich schätze, es hätte keinen
Sinn, Ihnen zu raten, auch jeglichen Stress zu meiden. Nicht solange dieser Verrückte auf freiem Fuß ist.«
»Vielen Dank. Dir auch, Thom.«
Der Betreuer sah ihn ungläubig an und nickte zögernd.
Doch Rhyme starrte weiterhin nach unten, anstatt mit dem Rollstuhl so schnell wie möglich ins Labor zu fahren, was er unter anderen Umständen getan hätte. Und sogar als sich nun die Haustür öffnete und sie hörten, wie Pulaski und die Techniker hastig die Beweismittel hereintrugen, blieb Rhyme mit gesenktem Kopf, wo er war.
»Li…«, setzte Sachs an, brach aber sofort wieder ab – wegen ihres gemeinsamen Aberglaubens. »Rhyme? Möchtest du ins Labor?«
»Ja, sicher.«
Aber er starrte immer noch nach unten und rührte sich nicht.
Erschrocken fragte sie sich, ob er einen neuen Anfall erlitt.
Dann schluckte er und ließ den TDX losrollen. Sein Gesicht zerfloss förmlich vor Erleichterung, und Sachs begriff endlich: Rhyme hatte Sorge – nein: schreckliche Angst – gehabt, der Anfall könne größeren Schaden angerichtet und das bisschen Beweglichkeit, das er in der rechten Hand zurückerlangt hatte, wieder zunichtegemacht haben.
Das hatte er die ganze Zeit angestarrt:
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