Opferlämmer
von der Sendetaste und wies nach vorn. »Los jetzt!«, flüsterte sie Pulaski zu. »Zur Hintertür.«
»Ja, okay«, sagte der junge Beamte und schaute nervös in den Schatten des Gebäudes, aus dem abermals ein Stöhnen durch die stinkende Luft herangetragen wurde.
Sachs fasste die Strecke bis zur Hintertür und Laderampe ins Auge. Der kaputte Asphalt war mit Scherben, Papier und leeren Dosen übersät. Ihre Schritte würden Geräusche verursachen, doch sie hatten keine andere Wahl.
Amelia winkte Pulaski voran. Sie machten sich möglichst leise auf den Weg, aber das knirschende Glas unter ihren Schuhsohlen ließ sich nicht vermeiden.
Dann jedoch hatten sie unverhofftes Glück – etwas, woran Sachs im Gegensatz zu Lincoln Rhyme glaubte. Irgendwo in der Nähe erwachte ein lauter Dieselmotor zum Leben und übertönte alles andere.
Manchmal läuft es eben wie geschmiert, dachte Sachs. Nach den letzten beiden Tagen wird es aber auch höchste Zeit.
… Einundsechzig
Er würde Lincoln Rhyme nicht verlieren.
Thom Reston hatte seinen Chef aus dem Rollstuhl in eine fast stehende Position gehoben und drückte ihn gegen die Wand. Bei einer autonomen Dysregulation soll der Patient in eine aufrechte Haltung gebracht werden – in den Lehrbüchern steht »sitzend«, aber Rhyme hatte gesessen, als seine Gefäße sich im ganzen Körper verengten, und der Betreuer wollte ihn so weit wie möglich aufrichten, um das Blut wieder nach unten zu zwingen.
Er hatte sich auf Zwischenfälle wie diesen vorbereitet – und sogar dafür geübt, wenn Rhyme nicht zugegen war, da Thom wusste, dass sein Chef nicht die Geduld haben würde, einen Probelauf durchzuführen. Nun brauchte er nicht mal hinzusehen, um sich das Röhrchen mit dem gefäßerweiternden Medikament zu greifen, mit dem Daumen die Verschlusskappe wegzuschnippen und die kleine Tablette unter Rhymes Zunge zu schieben.
»Mel, bitte helfen Sie mir mal«, sagte Thom.
Bei den Proben hatte es keinen echten Patienten gegeben; der bewusstlose Rhyme bedeutete 82 Kilo totes Gewicht.
Den Ausdruck muss ich mir abgewöhnen, dachte Thom.
Mel Cooper sprang vor und stützte Rhyme, während Thom die Kurzwahltaste 1 des schnurlosen Telefons drückte, dessen Akku immer voll geladen war und das den besten Empfang aller von ihm getesteten Geräte hatte. Nach dem zweiten Klingeln
wurde er durchgestellt, und nach fünf langen Sekunden sprach er mit einem Arzt in einer Privatklinik. Ein Notfallteam machte sich sofort auf den Weg. Das Krankenhaus, in dem Rhyme regelmäßig untersucht wurde und sich speziellen Therapiemaßnahmen unterzog, besaß eine große Abteilung für Rückenmarksverletzungen und zwei mobile Teams für den schnellen Einsatz vor Ort, wenn es zu lange dauern würde, einen behinderten Patienten zunächst ins Krankenhaus zu transportieren.
Rhyme hatte im Laufe der Jahre ungefähr ein Dutzend solcher Anfälle erlitten, aber dieser war der schlimmste, den Thom je mit angesehen hatte. Er konnte seinen Chef nicht festhalten und ihm gleichzeitig den Blutdruck messen, aber er wusste, dass der Wert gefährlich hoch lag. Rhymes Gesicht war rot, und er schwitzte. Thom konnte sich nur vorstellen, wie qualvoll die Kopfschmerzen sein mussten, während der Körper, dem die Querschnittslähmung vorgaukelte, er brauche dringend mehr Blut, den Herzschlag massiv erhöhte und die Gefäße zusammenzog.
Eine Dysregulation konnte tödlich enden oder – was Rhyme als noch schlimmer empfand — einen Schlaganfall und dadurch noch gravierendere Lähmungen bewirken. In dem Fall würde Rhyme womöglich wieder auf seine längst überwunden geglaubte Idee der aktiven Sterbehilfe zurückgreifen, die dieser verfluchte Arlen Kopeski ihm gerade erst ins Gedächtnis gerufen hatte.
»Was kann ich tun?«, flüsterte Cooper, dessen sonst so ruhige Miene voller Besorgnis war. Auch ihm stand inzwischen der Schweiß auf der Stirn.
»Wir halten ihn einfach nur aufrecht.«
Thom sah Rhyme in die Augen. Dessen Blick war leer.
Der Betreuer nahm ein zweites Röhrchen und verabreichte eine weitere Dosis Clonidin.
Keine Reaktion.
Thom stand hilflos da; er und Cooper sprachen kein Wort. Die letzten Jahre mit Rhyme zogen an ihm vorbei. Sie hatten manch erbitterten Kampf ausgefochten, aber Thom war ein erfahrener Betreuer und wusste, dass er den Zorn des Patienten nicht persönlich nehmen durfte. Er ließ solche negativen Gefühle gar nicht erst an sich heran und gab einfach sein Bestes.
Rhyme hatte ihn fast so oft
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