Opferlämmer
Krebstherapien und Behandlungstechniken und so. Doch stattdessen ließ dieser kleine Jammerlappen seinen Frust an Unschuldigen aus. Und Herr im Himmel, was tat er bloß gerade dieser Frau in dem Schulgebäude an? Sie musste über Informationen verfügen, die er benötigte. Oder vielleicht war sie eine Ärztin, die eine Fehldiagnose oder so gestellt hatte, und nun nahm er auch an ihr Rache.
Bei diesem Gedanken beeilte Pulaski sich noch mehr. Er schaute zurück und sah Sachs neben der halb geöffneten Tür warten, die Glock mit gesenkter Mündung schussbereit in beiden Händen.
Sein Ärger wuchs. Pulaski erreichte eine Backsteinmauer, hinter der man ihn nicht sehen konnte. Er lief schneller, genau auf die Feuerleiter zu. Das Ding war alt; der Großteil der Farbe war abgeblättert und dem Rost gewichen. Auf dem Betonboden genau unter der Leiter stand eine riesige Pfütze. Ron blieb stehen. Wasser … Strom. Aber es gab hier keinen Strom. Und das Wasser ließ sich sowieso nicht vermeiden. Er lief hindurch.
Noch drei Meter.
Er hielt nach dem besten Fenster für den Einstieg Ausschau. Hoffentlich würden Leiter und Plattform nicht rasseln oder klirren. Galt konnte nicht mehr als zwölf Meter davon entfernt sein.
Zum Glück würde der Dieselmotor das meiste übertönen.
Anderthalb Meter.
Pulaski horchte in sich hinein. Sein Herz schlug ruhig und gleichmäßig. Lincoln Rhyme würde wieder stolz auf ihn sein.
He, er würde diesen kranken Mistkerl eigenhändig verhaften.
Er griff nach der Leiter.
Und dann hörte er nur noch einen lauten Knall, und alle Muskeln seines Körpers verkrampften sich gleichzeitig. Vor seinen Augen blitzte ein Feuerwerk auf, bevor der Anblick zu einem gelben Schleier verschwamm. Dann wurde es schwarz um ihn.
… Dreiundsechzig
Amelia Sachs und Lon Sellitto warteten hinter der Schule ab, während die ESU das Gebäude durchkämmte.
»Eine Falle«, sagte der Lieutenant.
»Ja«, bestätigte sie grimmig. »Galt hatte in dem Schuppen hinter der Schule einen großen Generator installiert. Er hat ihn angeworfen und ist verschwunden. Die Kabel waren mit den Metalltüren und der Feuerleiter verbunden.«
»Und Pulaski wollte über die Feuerleiter einsteigen?«
Sie nickte. »Der arme Kerl. Er…«
Ein ESU-Beamter, ein hochgewachsener Afroamerikaner, unterbrach sie. »Detective, Lieutenant, wir sind fertig. Das gesamte Gelände ist gesichert. Wir haben drinnen nichts angefasst, so wie Sie uns gebeten haben.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte Sachs. »Er hat einen Digitalrekorder benutzt.«
»Richtig, Detective. Es klang wie eine Szene aus einer Fernsehserie. Er hat an einer Schnur eine Taschenlampe aufgehängt. Es sollte aussehen, als hielte jemand sie in der Hand.«
Keine Geisel. Kein Galt. Überhaupt niemand.
»Ich kümmere mich gleich um die Spurensicherung.«
»Es gab in Wahrheit gar keinen Streifenbeamten, der ihn gemeldet hat?«, fragte der Cop.
»Ganz recht«, murmelte Sellitto. »Das war Galt selbst. Mit einem Prepaid-Telefon, möchte ich wetten. Ich lasse das überprüfen. «
»Und all das hier« – er deutete auf die Schule – »war dazu gedacht, einige von uns zu töten?«
»Ja«, sagte Sachs ernst.
Der ESU-Beamte verzog das Gesicht und ging los, um sein Team zu versammeln. Sachs hatte sofort bei Rhyme angerufen, um ihn über die Entwicklung bei der Schule zu unterrichten. Und über Ron Pulaski.
Doch seltsamerweise sprang sofort der Anrufbeantworter an.
Vielleicht hatte sich plötzlich etwas Neues ergeben, oder der Fall in Mexiko erforderte Rhymes ganze Aufmerksamkeit.
Ein Sanitäter kam auf sie zu. Er blickte nach unten, um nicht in den Müll zu treten. Der Hof hier hinter der Schule sah aus wie ein Schuttabladeplatz. Sachs ging dem Mann ein Stück entgegen.
»Haben Sie jetzt Zeit, Detective?«, fragte er.
»Sicher.«
Sie folgte ihm neben das Gebäude, wo die Krankenwagen standen.
Dort saß Ron Pulaski auf einer der Betonstufen und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Sachs hielt inne, atmete tief durch und ging dann zu ihm.
»Es tut mir leid, Ron.«
Er massierte sich den Arm, beugte und streckte die Finger. »Nein, Ma’am.« Er stutzte, weil er so förmlich war. Und grinste. »Ich habe Ihnen zu danken.«
»Falls es eine andere Möglichkeit gegeben hätte … Aber ich konnte nicht rufen. Ich musste davon ausgehen, dass Galt noch da drinnen war. Und seine Pistole hatte.«
»Ich weiß.«
Eine Viertelstunde zuvor, als Sachs neben dem Hintereingang gewartet
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