Opferlämmer
würde diesen verrückten Gedanken natürlich niemals laut äußern und hatte auch noch nie länger als ein oder zwei Sekunden damit gespielt, aber dass er ihr ab und zu in den Sinn kam, ließ sich nicht leugnen. Alles hatte eben seine Vor- und Nachteile.
Sie blieb stehen. Außer ihr würde niemand das Gebäude betreten. Als Rhyme noch Leiter der Spurensicherung des NYPD gewesen war, hatte er seine Leute angewiesen, stets allein zu arbeiten, sofern es sich nicht um einen ungewöhnlich großen Tatort handelte. Der Grund dafür war, dass man unterbewusst dazu neigte, mit geringerer Sorgfalt vorzugehen, wenn es Kollegen gab, die eventuelle Versäumnisse ausbügeln konnten. Darüber hinaus verursachte nicht nur der Täter Spuren am Schauplatz
eines Verbrechens, sondern auch der Tatortermittler, trotz aller Schutzkleidung. Eine solche Verunreinigung konnte einen Fall zunichtemachen. Je mehr Leute vor Ort, desto größer das Risiko.
Sachs schaute in die klaffende schwarze Türöffnung, aus der noch immer etwas Rauch quoll.
Der Strom ist abgeschaltet …
Mach dich endlich an die Arbeit, ermahnte sie sich. Die Qualität der Spuren nahm ab, je mehr Zeit verstrich. Schweißtropfen voll hilfreicher DNS verdunsteten, der Wind wehte wertvolle Fasern und Haare weg und trug dafür andere, irrelevante Partikel an den Tatort, was zu Verwirrung und falschen Schlüssen führte.
Amelia setzte das Headset auf und schaltete den Sender ein. In ihrem Ohr ertönte Rhymes Stimme. »… du mich hören, Sachs? Hast du … okay, du bist online. Hab mich schon gewundert. Was ist das?«
Dank einer kleinen hochauflösenden Videokamera an ihrem Stirnband sah er dasselbe wie sie. Sachs wurde sich bewusst, dass sie das Loch im Pfosten des Haltestellenschilds musterte. Sie erklärte Rhyme, was geschehen war: der Lichtbogen, die geschmolzenen Metalltropfen.
Rhyme schwieg für einen Moment. »Eine beachtliche Waffe«, sagte er dann. »Lass uns mit dem Gitternetz loslegen.«
Es gab mehrere Möglichkeiten, einen Tatort zu untersuchen. Man konnte zum Beispiel in der äußersten Ecke anfangen und sich in immer kleineren konzentrischen Kreisen bis zur Mitte vorarbeiten.
Lincoln Rhyme bevorzugte jedoch das Gitternetz. Wenn er eine Vorlesung hielt, sagte er den Studenten manchmal, sie sollten sich diese Vorgehensweise wie das Mähen eines Rasens vorstellen – nur dass man es zweimal tat. Man schritt in gerader Linie eine Seite des Tatorts ab, drehte sich um, machte einen
Schritt nach links oder rechts und ging in die Richtung, aus der man soeben gekommen war. Sobald man den Schauplatz auf diese Weise komplett abgedeckt hatte, wiederholte man das Ganze noch einmal im rechten Winkel zu den ursprünglichen Bahnen.
Rhyme bestand auf dieser doppelten Überprüfung, weil die erste Untersuchung eines Tatorts von allergrößter Bedeutung war. Falls man am Anfang nicht gründlich genug vorging, gelangte man unterschwellig zu der Ansicht, es gäbe nichts zu finden. Weitere Suchen würden dann zumeist ebenso erfolglos verlaufen.
Sachs dachte über die Ironie der Situation nach: Sie würde ein Netz im Bestandteil einer ganz anderen Art von Netz abschreiten. Sie wollte es Rhyme erzählen – aber später. Nun musste sie sich konzentrieren.
Die Tatortarbeit war wie die Suche eines Geiers nach Aas. Das Ziel war einfach: etwas zu finden, das der Täter hinterlassen hatte, was auch immer es sein mochte – und er hatte etwas hinterlassen. Der französische Kriminalist Edmond Locard hatte vor ungefähr hundert Jahren den Grundsatz formuliert, dass es bei einem Verbrechen stets zu einem Spurenaustausch zwischen dem Täter und dem Schauplatz oder dem Opfer kam. Es konnte sich um etwas nahezu Unsichtbares handeln, aber es war da und ließ sich finden, sofern man die nötige Geduld und Sorgfalt an den Tag legte und wusste, wie man suchen musste.
Amelia Sachs begann nun mit dieser Suche. Sie fing außerhalb des Umspannwerks an, bei der Waffe: dem baumelnden Kabel.
»Anscheinend hat er…«
»Oder sie , Plural«, korrigierte Rhyme durch das Headset. »Falls ›Gerechtigkeit-für‹ hinter dieser Sache steckt, könnte der Klub über eine ansehnliche Mitgliederzahl verfügen.«
»Guter Gedanke, Rhyme.« Er stellte sicher, dass sie nicht der großen Versuchung erliegen würde, für die ein jeder Tatortermittler
anfällig war: Voreingenommenheit. Eine Leiche, Blut und eine rauchende Pistole legten die Vermutung nahe, dass das Opfer erschossen worden war. Doch wenn man von
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