Opferlämmer
fragte die sonst so überschwängliche Stimme kleinlaut. »Nein. Das darf doch nicht wahr sein.«
Rhyme fuhr fort und beschrieb ihm den Plan, den Diaz ausgeheckt hatte – nämlich seinen Vorgesetzten zu ermorden und es wie das zufällige Resultat eines Bombenanschlags in Mexico City aussehen zu lassen.
Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille.
»War er ein Freund von Ihnen?«, fragte Rhyme.
»Ach, Freundschaft … Ich würde sagen, wenn es um Treuebruch geht, ist die Ehefrau, die mit einem anderen schläft und nach Hause kommt, um sich um deine Kinder zu kümmern und dir ein Essen zu kochen, eine geringere Sünderin als der Freund, der dich aus Habgier verrät. Oder was meinen Sie, Captain Rhyme?«
»Verrat ist ein Symptom der Wahrheit.«
»Ah, Captain Rhyme, sind Sie etwa Buddhist? Oder Hindu?«
Rhyme musste lachen. »Nein.«
»Aber Sie werden philosophisch … Ich glaube, die Antwort lautet, dass Arturo Diaz ein mexikanischer Polizist war und dass das Grund genug für sein Verhalten gewesen ist. Das Leben hier unten ist unmöglich.«
»Trotzdem halten Sie stand. Sie kämpfen weiter.«
»Ja, aber ich bin ein Narr. Ganz ähnlich wie Sie, mein Freund.
Könnten Sie nicht Millionen damit verdienen, Sicherheitskonzepte für Großkonzerne zu entwickeln?«
»Aber das würde keinen Spaß machen«, erwiderte der Kriminalist.
Das Lachen war aufrichtig und laut. »Was wird nun mit ihm passieren?«, fragte der Mexikaner.
»Logan? Man wird ihn für die Anschläge vor Gericht stellen und verurteilen. Und für die Verbrechen, die er hier vor einigen Jahren begangen hat.«
»Wird er die Todesstrafe erhalten?«
»Schon möglich, aber man wird ihn nicht hinrichten.«
»Warum nicht? Wegen der Liberalen in Amerika, über die ich so viel höre?«
»Die Sachlage ist etwas komplizierter. In erster Linie geht es dabei um die momentane Politik. Egal, was ein Täter verbrochen hat, der Gouverneur hier will derzeit keine Todesurteile vollstrecken lassen, denn es könnte missliche Folgen haben.«
»Vor allem für den betroffenen Strafgefangenen.«
»Dessen Meinung wird dabei allerdings kaum berücksichtigt. «
»Vermutlich nicht. Nun, trotz dieser Milde, Captain, würde Amerika mir gefallen, glaube ich. Vielleicht schleiche ich mich über die Grenze und werde illegaler Einwanderer. Ich könnte tagsüber bei McDonald’s arbeiten und nachts Verbrechen aufklären. «
»Ich bin gern bereit, für Sie zu bürgen, Rodolfo.«
»Ha. Meine Reise in die USA ist ungefähr so wahrscheinlich wie Ihre Reise nach Mexico City, obwohl ich unser Hühnchen in pikanter Soße und den Tequila wirklich empfehlen kann.«
»Ja, das stimmt. Obwohl der Tequila mich durchaus reizt.«
»So, jetzt muss ich aber los und das Rattennest ausheben, in das meine Behörde sich verwandelt hat. Es könnten …«
Er verstummte.
»Was denn, Commander?«
»Es könnten einige Fragen bezüglich der Beweise auftauchen. Ich weiß, es ist anmaßend von mir, aber dürfte ich Sie damit eventuell behelligen?«
»Ich werde Ihnen mit dem größten Vergnügen in jeder Hinsicht behilflich sein.«
»Sehr gut.« Wieder ein leises Lachen. »Mit etwas Glück kann ich mich in einigen Jahren womöglich auch zur Ruhe setzen.«
»Sie? Im Ruhestand, Commander?«
»Das war nur ein Scherz, Captain. Der Ruhestand ist nichts für Leute wie uns. Wir werden bei der Arbeit sterben. Lassen Sie uns beten, dass es bis dahin noch lange dauern möge. Und nun auf Wiedersehen, mein Freund.«
Sie trennten die Verbindung. Dann ließ Rhyme das Telefon die Nummer von Kathryn Dance in Kalifornien wählen und teilte ihr mit, dass Richard Logan hinter Gittern saß. Das Gespräch dauerte nur kurz. Nicht etwa, weil er keine Lust gehabt hätte – eher im Gegenteil: Er war über seinen Erfolg hocherfreut.
Aber die Nachwirkungen der Dysregulation senkten sich allmählich wie ein kalter Tau über ihn. Er ließ Sachs an den Apparat, damit sie ein wenig mit ihrer Freundin plaudern konnte, und bat Thom, ihm einen Glenmorangie zu bringen.
»Den achtzehn Jahre alten, falls du so nett wärst. Bitte und danke.«
Thom schenkte ihm einen großzügig bemessenen Whisky ein und stellte den Plastikbecher in den Getränkehalter neben dem Mund seines Chefs. Rhyme sog etwas davon durch den Strohhalm, genoss den rauchigen Geschmack auf der Zunge und schluckte erst dann herunter. Er spürte die Wärme, die Behaglichkeit, aber es betonte auch die verdammte Ermattung, die ihn schon seit rund einer Woche
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