Opferlämmer
Rhyme verächtlich. Jemand mit nacktem Oberkörper konnte einen anderen auf offener Straße erschießen, und die zehn Augenzeugen gaben jeder eine andere Farbe für das T-Shirt an, das der Täter vermeintlich getragen hatte. In den letzten Jahren hatten Rhymes Ansichten über den Wert solcher Aussagen sich dennoch ein wenig gemildert – wegen Sachs’ Geschick bei der Befragung und wegen Kathryn Dance, die bewiesen hatte, dass die Analyse der Körpersprache in den meisten Fällen exakt genug war, um belastbare Resultate zu erzielen. Dennoch konnte er seine Skepsis nie ganz abschütteln.
»Und was ist aus diesem Kerl im Overall geworden?«, fragte Rhyme.
»Da ist sich niemand sicher. Es war ziemlich chaotisch. Die Leute wissen nur noch, dass es einen gewaltigen Knall und einen
gleißenden Blitz gab. Dann sind alle nach draußen gelaufen. Keiner konnte sich erinnern, den Mann danach noch gesehen zu haben.«
»Hat er seinen Kaffee mitgenommen?«, fragte Rhyme. Er liebte Gläser und Tassen. Sie waren wie Ausweise, denn sie enthielten DNS und Fingerabdrücke. Und weil Milch, Zucker und andere Zusätze klebrig waren, blieben zudem Partikel an ihnen haften.
»Leider ja«, bestätigte Pulaski.
»Scheiße. Was haben Sie an dem Tisch gefunden?«
»Das hier.« Pulaski zog eine Plastiktüte aus einer der Kisten.
»Die ist leer.« Sellitto kniff die Augen zusammen und fummelte an seinem stattlichen Bauch herum, vielleicht um sich zu kratzen, vielleicht aber auch, weil es ihn unterbewusst quälte, wie wenig Erfolg seine aktuelle Trenddiät zeitigte.
Doch Rhyme sah die Tüte an und lächelte. »Gute Arbeit, Grünschnabel.«
»Gute Arbeit?«, wiederholte der Lieutenant. »Aber da ist doch gar nichts.«
»Das sind meine Lieblingsspuren, Lon. Die unsichtbaren Teile. Wir kommen gleich darauf zurück. Vorher aber noch etwas anderes, Pulaski. Was ist mit dem Internetzugang in dem Café? Ich habe darüber nachgedacht und möchte wetten, es gibt dort keinen.«
»Stimmt. Woher haben Sie das gewusst?«
»Er konnte nicht riskieren, dass der Hotspot abgeschaltet oder gestört sein würde. Vermutlich hat er sich über irgendeine Mobilfunkverbindung eingeloggt. Aber wir müssen herausfinden, wie er in das System der Algonquin eingedrungen ist. Lon, hol die von der Computerkriminalität an Bord. Die sollen sich mit jemandem von Algonquins Internetsicherheit in Verbindung setzen. Frag mal, ob Rodney abkömmlich ist.«
Die NYPD-Abteilung für Computerkriminalität war eine Elitegruppe
aus etwa dreißig Detectives und Hilfspersonal. Rhyme arbeitete mit einem der Leute gelegentlich zusammen – Detective Rodney Szarnek. Er hielt ihn für einen jungen Mann, hatte genau genommen aber keine Ahnung, wie alt Szarnek wirklich war. Das jungenhafte Auftreten, die nachlässige Kleidung und das zerzauste Haar ließen den Detective wie einen typischen Hacker wirken – und die sahen oft um Jahre jünger aus.
Sellitto rief die Abteilung an und führte ein kurzes Gespräch. Dann berichtete er Rhyme, dass Szarnek sofort mit Algonquins IT-Team Kontakt aufnehmen würde, um den Hackerangriff auf die dortigen Server zu untersuchen.
Cooper musterte ehrfürchtig das Kabel. »Das ist es also?« Dann hob er eine der Tüten mit den verformten Metallscheibchen an. »Zum Glück waren da keine Passanten. Falls das hier an der Fünften Avenue geschehen wäre, hätte es zwei Dutzend Tote geben können.«
Rhyme ignorierte diese überflüssige Feststellung und sah Sachs an. Ihm fiel auf, dass sie mit starrem Blick die winzigen Schrapnellsplitter betrachtete.
»Los jetzt, Leute«, rief er etwas schroffer als nötig und riss Sachs aus ihren Gedanken. »Machen wir uns an die Arbeit.«
… Zwölf
Fred Dellray schob sich in die Sitznische zu dem blassen hageren Mann, der ebenso gut ein verlebter Dreißigjähriger wie ein rüstiger Fünfzigjähriger hätte sein können.
Der Kerl trug ein zu großes Sportsakko, das entweder aus irgendeinem Ramschladen stammte oder von einem Kleiderhaken, als gerade niemand hingeschaut hatte.
»Jeep.«
»Äh, so heiße ich nicht mehr.«
»Nicht? Etwa Range Rover?«
»Ich kapier nicht, was …«
»Wie heißt du jetzt?«, fragte Dellray und runzelte die Stirn. Er spielte eine bestimmte Rolle, in die er bei solchen Leuten meistens schlüpfte. Jeep – oder Nicht-Jeep – war ein sadistischer Junkie gewesen, den der FBI-Agent einst im Zuge einer verdeckten Ermittlung festgenommen hatte. Zuvor hatte Dellray so tun müssen, als
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