Opferlämmer
blickte zerstreut auf. Es war ungefähr zwanzig Uhr dreißig, und obwohl der aktuelle Fall ihnen weiterhin auf den Nägeln brannte, konnte er kaum etwas tun, bis Sachs von dem Treffen mit der Firmenleitung der Algonquin zurückkehrte. Also hatte er widerstrebend eingewilligt, den Vertreter der Gruppe für Behindertenrechte zu empfangen, damit dieser ihm den Preis überreichen konnte.
Kopeski wird nicht herkommen und sich dann ewig in Geduld fassen, als wäre er ein Höfling, der auf eine Audienz beim König hofft …
»Bitte nennen Sie mich Arlen.«
Der freundliche Mann, der einen konservativen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte trug, die wie eine orangeschwarze Zuckerstange aussah, ging zu dem Kriminalisten und nickte ihm zu. Kein im Ansatz erstickter Versuch, ihm die Hand zu geben. Und er würdigte Rhymes Beine oder den Rollstuhl keines Blickes. Da Kopeski für eine Behindertenorganisation arbeitete, war Rhymes Zustand für ihn nichts Außergewöhnliches. Eine solche Einstellung gefiel Rhyme. Er glaubte, dass jeder Mensch auf die eine oder andere Weise eingeschränkt war, ob nun durch seelische Narben, Arthritis oder die Nervenkrankheit ALS. Das Leben war eine einzige große Benachteiligung; die Frage lautete bloß: Was fangen wir damit an? Rhyme
dachte nur selten darüber nach. Er hatte sich nie sonderlich für Behindertenrechte engagiert; es kam ihm wie eine Ablenkung von seiner Arbeit vor. Er war eben ein Kriminalist, der sich nicht so mühelos bewegen konnte wie andere Menschen. Also behalf er sich nach besten Kräften und arbeitete weiter.
Rhyme schaute kurz zu Mel Cooper und nickte in Richtung des Wohnzimmers auf der anderen Seite des Korridors. Thom bat Kopeski hinein. Rhyme folgte in seinem Rollstuhl. Dann schloss der Betreuer die Türflügel bis auf einen kleinen Spalt und ließ die beiden allein.
»Nehmen Sie Platz, wenn Sie möchten«, sagte Rhyme und hoffte, dass der Mann den Wink mit dem Zaunpfahl erkennen, stehen bleiben, zur Sache kommen und wieder verschwinden würde. Kopeski hatte eine Aktentasche dabei. Vielleicht lag der Briefbeschwerer darin. Der Doktor konnte ihn überreichen, ein Foto schießen und aufbrechen. Damit wäre dann alles erledigt.
Der Doktor setzte sich. »Ich verfolge Ihre Laufbahn schon seit einer ganzen Weile.«
»Ach ja?«
»Ist Ihnen der Disability Resources Council ein Begriff?«
Thom hatte ihm etwas darüber erzählt. Rhyme konnte sich kaum an den Monolog erinnern. »Sie leisten sehr gute Arbeit.«
»Gute Arbeit, ja.«
Schweigen.
Geht’s nicht ein bisschen schneller? Rhyme sah angestrengt zum Fenster hinaus, als würde von dort eine neue Aufgabe heranschweben, so wie zuvor der Falke. Tut mir leid, wir müssen Schluss machen, die Pflicht ruft …
»Ich habe im Laufe der Jahre mit vielen Behinderten zusammengearbeitet. Rückenmarksverletzungen, Spina bifida, ALS, zahlreiche andere Probleme. Auch Krebs.«
Seltsame Vorstellung. Rhyme hatte diese Krankheit nie als Behinderung betrachtet, aber einige Arten mochten durchaus der
Definition entsprechen. Er schaute zur Wanduhr, die quälend langsam tickte. Und dann brachte Thom ein Tablett mit Kaffee und – oh, um Himmels willen – Keksen. Rhymes vernichtender Blick – das hier war doch kein Kaffeekränzchen! – glitt einfach an ihm ab.
»Vielen Dank«, sagte Kopeski und nahm eine Tasse. Rhyme war enttäuscht, dass er keine Milch hinzufügte. Die hätte nämlich das Getränk ein wenig abgekühlt, sodass Kopeski es schneller hätte trinken und sich umso früher wieder auf den Weg machen können.
»Du auch, Lincoln?«
»Nein danke, ich möchte nichts«, sagte er mit eisiger Stimme, die Thom ebenso ungerührt ignorierte wie den lodernden Blick zuvor. Der Betreuer ließ das Tablett stehen und eilte zurück in die Küche.
Der Doktor machte es sich auf dem Ledersessel bequem. »Guter Kaffee.«
Wie mich das freut . Rhyme deutete ein Nicken an.
»Sie haben viel zu tun, also komme ich gleich auf den Punkt.«
»Das wäre mir lieb.«
»Detective Rhyme … Lincoln. Sind Sie religiös?«
Die Behindertengruppe war offenbar an eine Kirche angegliedert; vielleicht wollte man ja keinen Heiden als Preisträger.
»Nein, bin ich nicht.«
»Sie glauben nicht an ein Leben nach dem Tod?«
»Ich habe keinen objektiven Beweis dafür gesehen, dass eines existiert.«
»Viele, sehr viele Leute empfinden so wie Sie. Für Sie wäre demnach der Tod gleichbedeutend mit, sagen wir, Frieden.«
»Je nachdem, auf welche Weise ich
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