Opferlämmer
tat so, als wäre er am Ende des Arbeitstages erschöpft. Die deutlich kleinere Mannschaft der Nachtschicht trat ihren Dienst an. Der Mann kam näher, und noch immer beachtete ihn niemand. Er trug eine dicke Schutzbrille und den gelben Algonquin-Helm. Damit war er so unsichtbar wie Strom in einer Leitung.
Der erste Anschlag wurde wie erwartet ausführlich in den Nachrichten behandelt, wenngleich immer nur von einem »Zwischenfall« in einem Umspannwerk in Midtown die Rede war. Die Reporter schwafelten von Kurzschlüssen, Funken und vorübergehenden Stromausfällen. Es wurde viel über Terroristen spekuliert, aber niemand hatte eine konkrete Verbindung gefunden.
Bislang.
Irgendwann würde jemand die Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, dass ein Arbeiter der Algonquin in der Gegend herumlief und Fallen stellte, die zu überaus unangenehmen und qualvollen Todesfällen führten. Noch war niemand auf diesen Gedanken gekommen.
Der Mann verließ die Baustelle und stieg unter die Erde, weiterhin unbehelligt. Sein Overall und der Dienstausweis waren wie magische Schlüssel. Der Mann schob sich in einen weiteren
schmutzigen und heißen Zugangsschacht, legte Schutzkleidung an und fuhr fort, die Kabel zu installieren.
Strom und Tod.
Wie elegant es doch war, auf diese Weise ein Leben zu nehmen, verglichen mit der gewohnten Alternative, seinem Opfer aus vierhundert Metern Entfernung eine Kugel zu verpassen.
Es war so rein, so schlicht, so natürlich.
Man konnte Elektrizität aufhalten und lenken. Aber man konnte sie nicht überlisten. Sobald Strom einmal erzeugt war, würde er automatisch danach trachten, auf direktem Weg zur Erde zurückzukehren, und zwar buchstäblich blitzartig, auch falls das den Tod eines Menschen bedeutete.
Strom hatte kein Gewissen und empfand keine Schuld.
Das war eines der Dinge, die der Mann an seiner Waffe zu bewundern gelernt hatte. Im Gegensatz zu Menschen blieb die Elektrizität stets ihrer Natur treu.
… Dreiundzwanzig
Um diese Zeit erwachte die Stadt allabendlich zum Leben.
Einundzwanzig Uhr war wie die grüne Flagge bei einem Autorennen.
New York nahm seine Auszeit nicht während der Nachtstunden, sondern indem es in eine allgemeine Empfindungslosigkeit verfiel, und das geschah paradoxerweise dann, wenn die größte Betriebsamkeit herrschte: während der Hauptverkehrszeiten am Morgen und am Nachmittag. Erst jetzt schüttelten die Leute die Taubheit des Alltags ab, wurden sich wieder ihrer selbst bewusst, wurden lebendig.
Und trafen äußerst wichtige Entscheidungen: welche Bar, welche Freunde, welches Hemd? BH, kein BH?
Kondome? …
Und dann nichts wie raus auf die Straße.
Fred Dellray eilte mit großen Schritten durch die kühle Frühlingsluft und spürte die Energie ansteigen, beinahe wie den Strom, der die Kabel unter seinen Füßen summen ließ. Er fuhr nur selten Auto, besaß keinen eigenen Wagen, aber was er im Augenblick empfand, ähnelte sehr dem Gefühl, das Gaspedal durchzutreten und sinnlos Benzin zu verbrennen, sodass man mit Macht seinem Schicksal entgegengeschleudert wurde.
Zwei Blocks von der U-Bahn entfernt, drei, vier …
Und noch etwas anderes brannte. Die 100 000 Dollar in seiner Tasche.
Habe ich jetzt alles ruiniert?, dachte Fred Dellray. Sicher, er
verhielt sich moralisch korrekt. Er würde seine Karriere opfern und eine Haftstrafe in Kauf nehmen, falls diese magere Aussicht auf eine Spur ihn letztlich zu dem Täter führte, mochte das nun »Gerechtigkeit-für« oder sonst wer sein. Hauptsache, die unschuldigen Opfer wurden gerettet. Gewiss, die 100 000 Dollar waren nichts im Vergleich zu dem Betrag, von dem er sie abgezweigt hatte. Und dank der bürokratischen Kurzsichtigkeit würde man sie vielleicht nicht mal vermissen. Doch auch dann, und sogar für den Fall, dass William Brents Informationen stichhaltig waren und weitere Anschläge verhindert werden konnten, würde die begangene Straftat an Dellray nagen, und sein Schuldgefühl würde immer mehr anwachsen wie ein quälender Tumor.
Würden die Gewissensbisse sein Leben am Ende dauerhaft beeinflussen, es grau und wertlos werden lassen?
Veränderungen …
Er stand kurz davor, kehrtzumachen und das Geld zurückzubringen.
Nein, doch nicht. Er tat das Richtige. Und er würde mit den Konsequenzen leben, wie auch immer sie aussahen.
Aber, verdammt, William, du hast hoffentlich einen echten Knüller zu bieten.
Dellray überquerte die Straße im Village und steuerte direkt auf William Brent zu, der
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