Opferlämmer
sowie die Emergency Services Unit – das Sondereinsatzkommando der Stadt – davon in Kenntnis, dass ungefähr um dreizehn Uhr ein weiterer Anschlag drohte.
Rhyme wandte sich dem Lautsprecher zu. »Miss Jessen, hier noch mal Lincoln. Diese Liste, die Sie Sachs gestern gegeben haben … die Angestellten …«
»Ja?«
»Können Sie uns Schriftproben der Leute besorgen?«
»Von allen?«
»Von so vielen wie möglich.«
»Ich hoffe. Wir haben von so gut wie jedem Mitarbeiter eine unterzeichnete Vertraulichkeitserklärung vorliegen. Außerdem dürfte es diverse ausgefüllte Formulare, Anträge oder Spesenabrechnungen geben.«
Rhyme war skeptisch, inwieweit eine Unterschrift repräsentativ für die Handschrift einer Person sein würde. Er war zwar kein ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet, aber man kann nicht Chef der Spurensicherung werden, ohne zwangsläufig etwas davon zu verstehen. Er wusste, dass die Leute dazu neigten, ihre Namen beiläufig hinzukritzeln (was eine wirklich schlechte Angewohnheit war, denn eine nachlässige Signatur lässt sich einfacher fälschen). Wenn jemand aber ein Memo verfasste oder sich Notizen machte, geschah das zumeist in leserlicherer Form und ließ weitaus bessere Rückschlüsse zu. Rhyme teilte Jessen seine Bedenken mit. Sie erwiderte, sie werde mehrere Leute mit der Suche nach möglichst vielen aussagekräftigen Schriftproben beauftragen. Sie war nicht glücklich darüber, schien aber mittlerweile akzeptiert zu haben, dass ein Angestellter der Algonquin in die Sache verwickelt sein konnte.
Rhyme drehte den Kopf vom Telefon weg. »Sachs!«, rief er. »Ist er da? Ist Parker da? Was ist los?«
Sie nickte. »Er ist bei irgendeiner Veranstaltung oder so. Ich werde zu ihm durchgestellt.«
Kincaid war der alleinerziehende Vater zweier Kinder, Robby und Stephanie, und legte viel Wert darauf, sein Privat- und Berufsleben im Gleichgewicht zu halten. Er hatte das FBI verlassen, um sich mehr um seine Kinder kümmern und – wie Rhyme – als freier Berater arbeiten zu können. Rhyme wusste jedoch auch, dass Kincaid bei einem Fall wie diesem sofort an Bord kommen und nach Kräften behilflich sein würde.
Der Kriminalist wandte sich wieder dem Telefon zu. »Miss Jessen, könnten Sie die Proben scannen und an folgende E-Mail-Adresse
schicken?« Er sah Sachs an und zog eine Augenbraue hoch. Sie nannte der Firmenchefin die elektronische Anschrift von Parker Kincaid.
»Ist notiert«, sagte Jessen.
»Verwendet der Täter übliche Fachbegriffe?«, fragte Rhyme. »›Versorgungsnetz‹, ›sukzessiver Spannungsabfall‹, ›abfallende Last‹?«
»Ja.«
»Verrät uns das etwas über ihn?«
»Eigentlich nicht. Wer unseren Computer manipulieren und eine Lichtbogenvorrichtung installieren kann, weiß natürlich auch über die technischen Aspekte Bescheid. Diese Begriffe sind jedem in der Strombranche geläufig.«
»Wie haben Sie den Brief bekommen?«
»Er wurde bei mir zu Hause abgegeben.«
»Ist Ihre Adresse allgemein bekannt?«
»Ich stehe nicht im Telefonbuch, aber ich schätze, es ist nicht unmöglich, mich zu finden.«
»Wie genau haben Sie den Brief erhalten?«, hakte Rhyme nach.
»Ich wohne in einem Apartmentgebäude an der Upper East Side. Jemand hat am Lieferanteneingang geklingelt. Der Portier ist hingegangen, um nachzusehen. Als er zurückkam, lag der Brief auf seinem Tisch. Auf dem Umschlag stand: Dringend! Sofort an Andi Jessen zustellen! «
»Gibt es dort Überwachungskameras?«, fragte Rhyme.
»Nein.«
»Wer hat den Brief angefasst?«
»Der Portier. Allerdings nur den Umschlag. Ich habe das Schreiben durch einen Boten abholen und in die Firma bringen lassen. Er dürfte es also auch berührt haben. Und ich natürlich. «
McDaniel wollte etwas sagen, aber Rhyme kam ihm zuvor.
»Der Brief war eilig. Wer auch immer ihn abgegeben hat, wusste von dem Portier und dass er Sie umgehend verständigen würde.«
McDaniel nickte. Offenbar wäre das auch sein Kommentar gewesen. Der Kleine mit den glänzenden Augen nickte ebenfalls wie ein Wackeldackel auf der Hutablage eines Autos.
»Ich schätze, das stimmt«, sagte Andi Jessen nach einer kurzen Pause. Die Besorgnis war ihr deutlich anzuhören. »Demnach hat er mich ausspioniert. Wer weiß, was er noch alles in Erfahrung gebracht hat!«
»Haben Sie Personenschutz?«, fragte Sellitto.
»In der Firma sind rund um die Uhr vier bewaffnete Wachleute zugegen. Bernie Wahl, unser Sicherheitschef, hat dafür gesorgt. Sie haben ihn
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