Opferlämmer
ja kennengelernt, Detective Sachs. Aber zu Hause habe ich niemanden. Ich hätte nie gedacht …«
»Wir lassen einen Streifenwagen vor Ihrem Haus Posten beziehen«, sagte Sellitto und klappte sein Telefon auf, um alles Notwendige zu veranlassen.
»Haben Sie Angehörige hier in der Gegend?«, fragte McDaniel. »Falls ja, sollten auch sie bewacht werden.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte kurz Stille. Dann: »Warum?«
»Er könnte versuchen, Ihre Verwandten als Druckmittel zu benutzen.«
»Oh.« Bei dem Gedanken, ihrer Familie könne ein Leid zugefügt werden, klang Jessens sonst so entschlossene Stimme auf einmal kleinlaut. Doch sie entgegnete: »Meine Eltern wohnen in Florida.«
»Sie haben einen Bruder, nicht wahr?«, fragte Sachs. »Habe ich auf Ihrem Schreibtisch nicht ein Foto von ihm gesehen?«
»Mein Bruder? Wir haben kaum Kontakt. Und er lebt nicht hier…« Sie wurde von jemandem im Hintergrund unterbrochen. »Hören Sie, es tut mir leid«, meldete sie sich gleich darauf
zurück. »Der Gouverneur ruft an. Er hat gerade von der neuen Entwicklung erfahren.«
Es klickte in der Leitung. Jessen hatte aufgelegt.
»Gut.« Sellitto hob beide Hände. Sein Blick streifte McDaniel, richtete sich dann aber auf Rhyme. »Das macht es uns wesentlich leichter.«
»Leichter?«, fragte der Kleine.
»Ja.« Sellitto zeigte auf einen der Monitore. Dort lief eine Digitaluhr. »Da wir nicht mit ihm verhandeln können, müssen wir ihn lediglich finden. In weniger als drei Stunden. Ein Kinderspiel. «
… Siebenundzwanzig
Mel Cooper und Rhyme arbeiteten an der Analyse des Briefes. Einige Minuten zuvor war auch Ron Pulaski eingetroffen. Lon Sellitto hatte sich auf den Weg nach Downtown begeben, um mit der ESU das weitere Vorgehen zu koordinieren, falls unversehens ein Verdächtiger oder der mögliche Ort des nächsten Anschlags identifiziert werden konnte.
Tucker McDaniel musterte den Erpresserbrief, als handle es sich um irgendeine exotische Speise, die ihm noch nie zu Gesicht gekommen war. Nach Rhymes Einschätzung lag das daran, dass Handschrift auf einem Zettel nicht in die Vorstellung von einem »digitalen Umfeld« passte. Es war gewissermaßen die Antithese aller Hightech-Kommunikation. Gegen Papier und Tinte konnten McDaniels Computer und seine hoch entwickelten Suchsysteme nichts ausrichten.
Auch Rhyme betrachtete die Nachricht. Er wusste – sowohl aus eigener Erfahrung als auch aus der Zusammenarbeit mit Parker Kincaid –, dass eine Handschrift nichts über die Persönlichkeit des Schreibers verrät, was auch immer die Bücher in den Ständern kurz vor der Supermarktkasse oder irgendwelche Medienberichte behaupten mochten. Eine Analyse konnte dennoch aufschlussreich sein, sofern man eine andere Probe besaß, um sie mit dem ersten Text zu vergleichen. Auf diese Weise ließ sich nämlich feststellen, ob beide Dokumente vom selben Verfasser stammten. Parker Kincaid würde nun genau das tun und als Erstes einen Abgleich mit den beglaubigten Proben bekannter Terrorverdächtiger
durchführen. Dann würde er sich die Schriftproben der Algonquin-Angestellten vornehmen, die auf der Liste der Firma standen.
Schrift und Inhalt eines Briefes ließen eventuell auch Rückschlüsse auf Rechts- oder Linkshändigkeit zu, auf das Bildungsniveau, das Heimatland und/oder die Herkunftsregion, mentale und körperliche Gebrechen sowie den Einfluss von Alkohol oder Drogen.
Rhymes Interesse galt jedoch zunächst etwas grundlegenderen Details: den Charakteristika des Papiers und der Tinte sowie etwaigen Fingerabdrücken und Spurenpartikeln.
Coopers sorgfältige Untersuchung ergab in allen vier Punkten ein großes fettes Nichts.
Papier und Tinte waren beide handelsüblich und konnten aus Tausenden von Geschäften stammen. Der Brief trug lediglich Andi Jessens Fingerspuren, der Umschlag zusätzlich die des Boten und des Portiers; McDaniels Leute hatten von allen Beteiligten Abdrücke genommen und an Rhyme übermittelt.
Unbrauchbar, dachte Rhyme verärgert. Die einzige Folgerung lautete, dass der Täter schlau war. Und sich zu behelfen wusste.
Doch zehn Minuten später gab es so etwas wie einen Durchbruch.
Parker Kincaid rief aus seinem Haus in Fairfax, Virginia, an, wo er in seinem Arbeitszimmer über den Dokumenten saß.
»Lincoln.«
»Parker, was haben wir?«
»Lass uns mit dem Schriftvergleich anfangen«, sagte Kincaid. »Die Kontrollproben, die das Unternehmen mir geschickt hat, waren relativ dürftig. Daher konnte
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