Opferlämmer
Durch die kommerzielle Verwertung von Elektrizität ohne Rücksicht auf die Konsequenzen zerstören Sie unsere Welt. Sie schleichen sich heimtückisch in unsere Leben wie ein Virus, bis wir von dem abhängig sind, was uns tötet.
Die Leute müssen lernen, dass sie längst nicht so viel Elektrizität benötigen, wie Sie ihnen einreden. Und Sie müssen ihnen den Weg weisen. Daher werden Sie im gesamten Versorgungsnetz von New York City heute einen sukzessiven Spannungsabfall herbeiführen – Sie werden die Leistung auf fünfzig Prozent der abfallenden Last reduzieren, und zwar eine halbe Stunde lang, beginnend um 12.30 Uhr. Falls Sie das nicht tun, werden um 13.00 Uhr weitere Menschen sterben.
Rhyme nickte in Richtung des Telefons. »Ruf Andi Jessen an«, sagte er zu Sachs.
Sie befolgte seine Anweisung, und kurz darauf ertönte die Stimme der Frau aus dem Lautsprecher. »Detective Sachs? Wissen Sie schon Bescheid?«
»Ja. Ich bin hier mit Lincoln Rhyme sowie einigen Leuten vom FBI und dem NYPD. Der Brief liegt uns vor.«
»Wer steckt dahinter?«, fragte Jessen wütend.
»Das wissen wir nicht«, sagte Sachs.
»Aber Sie müssen doch zumindest irgendeine Vorstellung haben. «
»Die Ermittlungen kommen voran, aber wir haben noch keinen Verdächtigen«, erklärte McDaniel, nachdem er seinen Namen und Dienstrang genannt hatte.
»Und was ist mit dem Mann im Overall, der gestern in dem Café bei der Bushaltestelle gesessen hat?«
»Wir wissen nicht, wer er ist. Zurzeit gehen wir die Liste durch, die Sie uns gegeben haben. Aber bislang hat sich noch kein klarer Tatverdächtiger herauskristallisiert.«
»Miss Jessen, ich bin Detective Sellitto vom NYPD. Können Sie es tun?«
»Was tun?«
»Was er fordert. Sie wissen schon, den Strom herunterfahren. «
Rhyme sah kein Problem darin, dem Gegner ein Stück entgegenzukommen, falls dadurch zusätzliche Zeit gewonnen wurde, um Spuren zu analysieren oder einen Terroristen zu überwachen. Aber diese Entscheidung lag nicht bei ihm.
»Hier ist noch mal Tucker, Miss Jessen. Wir empfehlen ausdrücklich, sich nicht auf Verhandlungen einzulassen. Es würde am Ende nur dazu führen, dass die Täter zusätzliche Forderungen erheben.« Seine Augen waren auf den massigen Detective gerichtet, der den Blick offen erwiderte.
»Es könnte uns etwas Spielraum verschaffen«, ließ Sellitto sich nicht beirren.
Der ASAC zögerte, vielleicht weil er es für unklug hielt, den Anschein einer Kontroverse zu erwecken. Dennoch sagte er: »Ich rate dringend davon ab.«
»Es steht nicht mal zur Debatte«, sagte Andi Jessen. »Eine stadtweite Reduzierung auf fünfzig Prozent der abfallenden Last? Das ist nicht so, als würde man einen Dimmer zurückdrehen. Es würde das Gefüge der gesamten Northeastern Interconnection durcheinanderbringen und zu Dutzenden von Spannungsschwankungen und Stromausfällen führen. Und wir haben Millionen von Kunden, deren Systeme sich bei so einer Fluktuation aus Sicherheitsgründen komplett abschalten würden. Es gäbe Datenverluste und automatische Rücksetzungen
auf die Werkseinstellungen. Und dann könnte man das alles nicht einfach wieder einschalten, sondern müsste es über Tage neu programmieren. Viele Daten würden sich gar nicht mehr retten lassen. Schlimmer noch: Nur ein Teil der lebenswichtigen Infrastruktur ist durch Batterien oder eigene Generatoren abgesichert, aber eben nicht alles. Die Notstromaggregate der Krankenhäuser beispielsweise können nur für kurze Zeit einspringen, und manche dieser Systeme funktionieren nie hundertprozentig. Als Folge würden Menschen ihr Leben verlieren.«
Tja, dachte Rhyme, der Verfasser des Briefes hat in einem Punkt recht: Die Elektrizität und damit die Algonquin und andere Energieversorger sind tatsächlich ein Bestandteil unseres Lebens geworden. Wir sind vom Strom abhängig.
»Da hören Sie’s«, sagte McDaniel. »Es geht gar nicht.«
Sellitto verzog das Gesicht. Rhyme sah zu Sachs. »Parker?«
Sie nickte, scrollte durch eine Liste in ihrem BlackBerry und suchte die Nummer und E-Mail-Adresse von Parker Kincaid in Washington D.C. heraus. Er war ein ehemaliger FBI-Agent und arbeitete inzwischen als unabhängiger Berater. Rhyme hielt ihn für den landesweit besten Dokumentengutachter.
»Ich schicke es ihm gleich rüber.« Sachs setzte sich an einen der Computer, schrieb eine E-Mail, scannte den Brief ein und schickte beides los.
Sellitto klappte sein Telefon auf und setzte die Antiterroreinheit des NYPD
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