Opferlämmer
seinem Tonfall schien ein Hauch Französisch mitzuschwingen.
»Ah, ah, Lincoln Rhyme. Es ist mir ein überaus großes Vergnügen. Ich habe viel über Sie gelesen. Und ich besitze natürlich Ihre Bücher. Ich habe dafür gesorgt, dass sie zur Pflichtlektüre
meiner Ermittler gehören.« Er hielt kurz inne. »Verzeihen Sie«, sagte er dann. »Aber wollen Sie das Kapitel über DNS nicht mal auf den neuesten Stand bringen?«
Rhyme musste lachen. Erst vor ein paar Tagen hatte er genau darüber nachgedacht. »Das werde ich. Sobald dieser Fall abgeschlossen ist, Inspector … sind Sie ein Inspector?«
»Inspector?«, wiederholte er gutmütig. »Tut mir leid, aber warum nur denken die Leute, dass in anderen Ländern als den Vereinigten Staaten alle Beamten den Titel eines Inspectors tragen? «
»Dank der wichtigsten Informationsquelle aller Strafverfolger«, sagte Rhyme. »Film und Fernsehen.«
Ein Kichern. »Was würden wir armen Polizisten nur ohne Kabelanschluss machen? Aber nein, mein Dienstrang ist Commander. In meinem Land besteht oft kein so großer Unterschied zwischen Armee und Polizei. Und Sie sind Captain im Ruhestand, entnehme ich Ihrem Buch.«
»Ich arbeite inzwischen als externer Berater. Und ich weiß Ihre Unterstützung bei den Ermittlungen wirklich zu schätzen. Dies ist ein sehr gefährlicher Mann.«
»Ich bin gern behilflich. Ihre Kollegin, Mrs. Dance, war maßgeblich dafür verantwortlich, dass mehrere mexikanische Straftäter von den USA an uns ausgeliefert werden konnten, obwohl es beträchtlichen Widerstand gab.«
»Ja, sie ist gut.« Er kam zur Sache: »Wie ich gehört habe, ist Logan wieder aufgetaucht.«
»Mein Assistent Arturo Diaz und sein Team haben ihn zweimal zu Gesicht bekommen. Einmal gestern in einem Hotel. Und dann heute Morgen ganz in der Nähe – an der Avenue Bosque de Reforma im Geschäftsviertel. Er hat einige Bürogebäude fotografiert und ist dadurch aufgefallen, denn es handelt sich schwerlich um architektonische Meisterwerke. Ein Verkehrspolizist hat ihn anhand eines Fotos wiedererkannt. Arturos
Männer waren schnell vor Ort, aber Logan konnte rechtzeitig verschwinden. Ihr Mr. Uhrmacher ist schwer zu fassen.«
»Davon kann ich ein Lied singen. Wer ist in den Gebäuden untergebracht, die er fotografiert hat?«
»Dutzende von Firmen. Und einige kleine Zweigstellen von Regierungsbehörden. Transport- und Handelsunternehmen. Im Erdgeschoss eines der Häuser liegt eine Bankfiliale. Ob das wohl eine Rolle spielt?«
»Er ist nicht nach Mexiko gekommen, um eine Bank auszurauben. Wir gehen davon aus, dass er einen Mord plant.«
»Unsere Leute überprüfen dort derzeit alle Firmen und Angestellten und suchen nach einer möglichen Zielperson.«
Rhyme wusste, auf welch politisch heiklem Feld er sich bewegte, aber ihm blieb keine Zeit für übertriebene Rücksichtnahme, und Luna kam ihm wie jemand vor, der das verstehen würde. »Ihre Teams müssen unsichtbar bleiben, Commander. Bitte seien Sie wesentlich vorsichtiger als normalerweise üblich.«
»Ja, natürlich. Dieser Mann hat das Auge, nicht wahr?«
»Das Auge?«
»So etwas wie das zweite Gesicht. Kathryn Dance hat mir erzählt, er sei wie eine Katze. Er spürt die Gefahr im Voraus.«
Nein, dachte Rhyme; er ist einfach nur sehr schlau und kann die Züge seiner Gegner präzise vorhersehen. Wie ein Großmeister im Schach. Doch er sagte: »Genau das ist es, Commander.«
Rhyme musterte das Foto von Luna auf seinem Bildschirm. Dance hatte recht: Telefonate gewannen deutlich hinzu, wenn man wusste, wie der Gesprächspartner aussah.
»Wir haben hier unten auch ein paar solcher Kandidaten.« Luna kicherte wieder. »Genau genommen bin ich einer davon. Deshalb bin ich noch am Leben, im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen. Wir setzen die Überwachung fort – aber diskret. Wenn wir ihn verhaftet haben, Captain, möchten Sie bei seiner Auslieferung vielleicht ja persönlich zugegen sein.«
»Ich komme nicht viel vor die Tür.«
Luna hielt abermals inne. »Ach, verzeihen Sie«, sagte er dann bekümmert. »Ich hatte Ihre Verletzung ganz vergessen.«
Was mir wohl nie gelingen wird, dachte Rhyme ebenso ernst. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.«
»Nun, wir hier in Mexico City sind jedenfalls überaus – wie sagt man bei Ihnen? – empfänglich . Sie wären uns herzlich willkommen und würden es sehr bequem haben. Sie können bei mir zu Hause wohnen, und meine Frau wird für Sie kochen. Es gibt in meinem Haus keine
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