Opferlämmer
heutigen Angestellten.
Der Geschäftsmann entspannte sich. Der Anblick ließ ihn sich schon deutlich heimischer fühlen – wie der Typ in Blau und die anderen in ihren Arbeitsjacken und -overalls ihre Werkzeuge und Baumaterial umherschleppten und dabei Witze rissen. Vetter dachte an seine eigene Firma und die Mitarbeiter, die für ihn wie eine große Familie waren. Die älteren Weißen, allesamt wortkarg und schlank und sonnengebräunt, die aussahen, als hätten sie von klein auf Beton gemischt, und die jüngeren Latinos, die pausenlos redeten und mit mehr Präzision und Stolz arbeiteten.
Vielleicht unterschieden New York und die Leute, mit denen Vetter hier verhandelte, sich doch nicht so sehr von dem, was er kannte und schätzte.
Immer mit der Ruhe.
Dann sah er den Mann mit dem blauen Overall und dem gelben Helm ein Gebäude gegenüber der Baustelle betreten. Es war ein College. In den Fenstern hingen Plakate:
SPRINGSTOCK-MARATHON AM 1. MAI.
ALLE EINNAHMEN WERDEN GESPENDET!
HÜPFT FÜR DIE HEILUNG!
ABENDESSEN FÜR CROSS-GENDER-STUDENTEN
AM 3. MAI.
BITTE VORHER ANMELDEN!
DER FACHBEREICH GEOWISSENSCHAFTEN PRÄSENTIERT:
»VULKANE: EIN BLICK HINTER DIE KULISSEN«
20. APRIL – 15. MAI
EINTRITT FREI UND HEISS, HEISS, HEISS!
BESUCHER HERZLICH WILLKOMMEN.
Okay, gestand Vetter sich lächelnd ein, womöglich ist New York letztlich doch ein wenig anders als Scottsdale.
… Dreiunddreißig
Rhyme sah immer wieder die Beweise durch und versuchte verzweifelt, in den scheinbar unzusammenhängenden Metallteilen, Plastikstücken und Staubpartikeln, die an den Tatorten gesichert worden waren, irgendeine Verbindung zu erkennen. Er hoffte auf eine zündende Idee, die ihm und Sachs würde helfen können, die genaue Stelle zu finden, an der Galt seine tödliche Vorrichtung an die Hochspannungsleitung angeschlossen hatte, die durch Morningside Heights und Harlem verlief.
Sofern das überhaupt der Fall war.
Zündende Idee … Schlechte Wortwahl, befand Rhyme.
Sachs suchte weiterhin den Morningside Park nach dem Kabel ab, mit dem die Wasserrohre unter Strom gesetzt werden sollten. Rhyme wusste, dass sie nervös sein würde – man konnte die fragliche Stelle nur aus unmittelbarer Nähe entdecken. Er erinnerte sich an ihren leeren Blick und den Klang ihrer Stimme, als sie gestern beschrieben hatte, wie Luis Martins Körper von den glühenden Schrapnellsplittern durchlöchert worden war.
Drei Dutzend Streifenbeamte aus dem nächstgelegenen Revier räumten unterdessen den Park und die Gebäude im Umkreis der Baustelle. Aber konnte die Elektrizität einem gusseisernen Rohr nicht beliebig weit folgen? Konnte sie nicht bewirken, dass sich ein oder zwei Kilometer weiter in irgendeiner Küche ein Lichtbogen entlud?
Gar in Rhymes eigener Küche, wo Thom gerade am Spülbecken stand?
Rhyme sah auf die Uhr. Falls sie das Kabel nicht innerhalb der nächsten sechzig Minuten fanden, würden sie es möglicherweise erfahren.
Sachs rief an. »Nichts, Rhyme. Vielleicht irre ich mich. Müsste die Leitung nicht an irgendeiner Stelle den U-Bahn-Tunnel kreuzen? Was ist, falls er einen Anschlag auf einen der Wagen verüben will? Ich muss auch dort nachsehen.«
»Wir stehen immer noch mit der Algonquin in Verbindung und bemühen uns, das Suchgebiet einzugrenzen, Sachs. Ich melde mich wieder.« Er sah zu Mel Cooper. »Was Neues?«
Der Techniker sprach mit jemandem im Kontrollzentrum der Algonquin. Die Leute dort waren von Andi Jessen angewiesen worden, die fragliche Leitung auf etwaige Spannungsschwankungen zu untersuchen. Es gab alle paar Dutzend Meter entsprechende Sensoren, die eigentlich dafür gedacht waren, rechtzeitig vor Beschädigungen der Isolierung oder einer Verringerung der Kapazität des Kabels zu warnen. Unter Umständen ließ sich mit ihrer Hilfe nun bestimmen, wo genau Galt die Leitung angezapft hatte.
Aber Cooper vermeldete: »Nein, tut mir leid.«
Rhyme schloss kurz die Augen. Die Kopfschmerzen, die er bislang verdrängt hatte, waren stärker geworden. Er fragte sich, ob auch irgendein anderes Körperteil wehtat. Das war eines der Probleme einer Querschnittslähmung. Ohne Schmerzempfinden wusste man nie, was eventuell im Körper vorging. Wenn im Wald ein Baum umstürzt, gibt es natürlich ein Geräusch, auch wenn niemand zugegen ist. Aber existiert ein Schmerz, den man nicht spürt?
Diese Gedanken hatten etwas Morbides an sich, erkannte Rhyme. Und ihm wurde auch klar, dass sie ihn schon eine ganze Weile heimsuchten. Er war
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