Opferlämmer
Stimme klang schon etwas zuversichtlicher.
»Ja?«, erwiderte der FBI-Agent.
»Ich möchte mich entschuldigen. Ich glaube, ich habe gestern etwas zu schroff reagiert. Aber ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, dass einer meiner Angestellten so etwas tun würde.«
»Ich verstehe«, sagte McDaniel. »Wenigstens kennen wir jetzt seinen Namen. Mit etwas Glück können wir ihn aufhalten, bevor noch jemand zu Schaden kommt.«
Sie beendeten das Gespräch. »Mel, hast du das mitgekriegt?«, fragte Rhyme. »Uptown. Morningside Heights, Harlem. Museum, Bildhauer, was auch immer. Los, sag mir ein mögliches Ziel!« Dann rief Rhyme den Interimschef der Spurensicherung in Queens an – den Mann mit seinem früheren Job – und bat ihn, ein Team zu dem Umspannwerk zu schicken, auf das der Brandanschlag verübt worden war. »Nehmt so viele elektrostatische Abdrücke wie möglich, und bringt sie mir!«
»Ich hab was!«, rief Cooper und nahm den Hörer vom Ohr. »Columbia University. Eine der landesweit größten Sammlungen von Lava und Vulkangestein.«
Rhyme schaute zu Sachs. Sie nickte. »Ich kann in zehn Minuten dort sein.«
Dann blickten beide zu der Digitaluhr auf Rhymes Computermonitor.
Es war elf Uhr neunundzwanzig.
… Einunddreißig
Amelia Sachs befand sich auf dem Campus der Columbia University, Morningside Heights, nördliches Manhattan, und verließ soeben das Institut für Geowissenschaften.
»Es gibt hier keine Vulkanausstellung im eigentlichen Sinne«, hatte eine hilfreiche Sekretärin ihr mitgeteilt, »aber wir haben Hunderte von Proben: Vulkanasche, Lava, alle möglichen Arten Erstarrungsgestein. Wenn unsere Studenten von einer Exkursion zurückkommen, ist hier immer gleich alles eingestaubt. «
»Ich bin hier, Rhyme«, sagte Sachs in das Mikrofon und erzählte ihm, was sie über die Vulkanasche erfahren hatte.
»Und ich habe noch mal mit Andi Jessen gesprochen«, sagte er. »Die unterirdische Hochspannungsleitung reicht praktisch von der Fünften Avenue bis zum Hudson und folgt dabei ungefähr der Hundertsechzehnten Straße. Die Vulkanasche deutet jedoch daraufhin, dass Galt irgendwo in der Nähe des Universitätsgeländes zuschlagen will. Was gibt es dort zu sehen, Sachs?«
»Hauptsächlich Seminar- und Verwaltungsräume.«
»Jeder davon könnte das Ziel sein.«
Sachs schaute von rechts nach links. Es war ein klarer, kühler Frühlingstag. Studenten schlenderten umher oder joggten. Saßen auf dem Rasen und der Treppe vor der Bibliothek. »Auf den ersten Blick gibt es hier aber nicht allzu viele Möglichkeiten, Rhyme. Das Gebäude ist alt und dürfte vorwiegend aus Stein und Holz bestehen. Kein Stahl, keine Drahtseile oder irgendwas
in der Richtung. Ich weiß nicht, wie er hier eine große Falle installieren könnte, um möglichst viele Leute zu verletzen.«
»In welche Richtung weht der Wind?«, fragte Rhyme.
Sachs überlegte. »Nach Osten und Nordosten, würde ich sagen.«
»Was meinst du? Wie weit würde Staub wehen? Vielleicht ein paar Blocks?«
»Ja, das kommt hin. Damit wären wir im Morningside Park.«
»Ich frage bei Andi Jessen oder sonst wem in der Algonquin nach, wo die Hochspannungsleitung den Park unterquert«, sagte Rhyme. »Und, Sachs?«
»Was?«
Er zögerte. Sie vermutete – nein, wusste –, dass er ihr auftragen würde, vorsichtig zu sein. Doch das war überflüssig.
»Nichts«, sagte er.
Und trennte abrupt die Verbindung.
Amelia Sachs ging zum Haupttor hinaus und folgte der Windrichtung. Sie überquerte die Amsterdam Avenue und bog in eine Straße östlich des Campus ein, an der zu beiden Seiten dunkle Mietshäuser standen, solide errichtet aus Granit und Backsteinen.
Ihr Telefon klingelte, und sie las die Kennung des Anrufers ab. »Rhyme. Wie sieht’s aus?«
»Ich habe gerade mit Andi gesprochen. Sie sagt, die Hochspannungsleitung verläuft nach Norden bis etwa zur Hundertsiebzehnten Straße und dann nach Westen unter dem Park hindurch. «
»Ich bin gleich da, Rhyme. Ich kann mir nicht vorstellen … o nein.«
»Was ist, Sachs?«
Vor ihr lag der Morningside Park. Es war kurz vor Mittag, und daher herrschte dort reger Betrieb. Kinder mit ihren Kindermädchen, Geschäftsleute, Studenten der Columbia, Musiker
… Hunderte von Menschen, die einfach herumsaßen und den schönen Tag genossen. Auch auf den Bürgersteigen war viel los. Aber die Anzahl der möglichen Opfer war nicht der einzige Grund für Amelias Bestürzung.
»Rhyme, die ganze Westseite des Parks,
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